In den Städten
und Dörfern sind Kirchenglocken schon oftmals zum Zankapfel geworden.
Vielen Gästen St. Ottiliens fällt auf, daß die Glocken
hier jede Viertelstunde bezeichnen, Tag und Nacht, ohne Unterlaß.
Zu den Tages- und Gebetszeiten erklingen sie, begleiten unsere Feste und
geleiten uns auf dem letzten Weg.
Wem die Stunde schlägt
Die
umfassende Aufgabe der Glocke ist die Verkündigung der Hora. »Sonat
hora«, es ertönt die Stunde, wenn die Glocke läutet. Aus
der Einförmigkeit der ins Nichts zerrinnenden Zeit hebt sich die Hora,
die die Glocke ansagt, heraus. Es ist die Stunde, in der das Heilige geschieht,
denn das Heilige hat immer den Charakter des Ereignisses. Die Glocke ruft
das Heilige aus in die Öffentlichkeit, verkündet sein Walten
in Raum und Zeit. Die Glocke artikuliert die sonst leer verrinnende Zeit,
wenn sie zum Gottesdienst läutet, zur Vesper, zur Taufe, zum Angelus,
zum Begräbnis, zu den Festen. Immer wieder ruft sie auf, sich zu sammeln
zur Kirche Gottes, um den Auftrag der Weltheiligung und christlichen Weltgestaltung
zu erfüllen.
Wenn ein Kulturhistoriker sagen kann: »Ordnung
und Macht des Westens beginnt mit dem abendländischen Kloster, das
sich aus dem Chaos der in Völkerwanderungen und Freveln ertrinkenden
Unzeit in wüsten, verwüsteten Räumen eine Zeit und (durch
sie) einen Raum ermißt und einhegt: durch den Schlag der
Glocke«, so ist es der Raum des benediktinischen »ora et labora«,
den der Schlag der Glocke ermißt und einhegt. Es ist ein Raum geistiger
und heiliger Ordnungen in dieser unserer dem Chaos zuneigenden Welt, ein
Ort der Heimholung des Menschen in das Eigentliche und Wesenhafte. Der
Mensch hat heute in seinem flachen Alltagsleben und -denken diesen Durchbruch
zur Transzendenz bitter nötig, wenn er sich noch etwas von seinem
wahren Wesen, das Ausgerichtetsein auf Gott, bewahren will. Jeder Glockenruf
ist ein solcher Ruf zum Aufstieg in das Ganze und Umgreifende, das erst
allem menschlichen Tun Sinn und Halt gibt.
Man redet heute so viel von der notwendigen
Einheit zwischen Religion und Leben, Gebet und Arbeit, man fürchtet
das Auseinanderbrechen von Sakralem und Profanem in zwei beziehungslose
Bereiche. »Ora et labora«, um das große »et«,
das große »und«, den Bindestrich zwischen Zeit und Ewigkeit
geht die Botschaft der Glocke. Gott und Welt hat sie immer neu verbunden
in der lebendigen Erfahrung des gläubigen Menschen.
Benediktiner und Glocken
Seit die Kirche sich der Glocken als Signalzeichen
bedient, waren es vor allem die Benediktiner, die die Kunst des Glockengießens
pflegten und weitervererbten. Hier begegnen wir seit dem 8. Jh. den ersten
schriftlichen Aufzeichnungen über die Konstruktion der Profile,
über die Maße, Speise und Guß der Glocken. Besonders wichtig
sind die »Aufzeichnungen über verschiedene Künste«,
die schedula diversarum artium des Mönches Theophilus aus dem 11./12.
Jahrhundert. Sein Werk bietet die inhaltsreichste und bedeutendste Anweisung,
die uns aus dem Mittelalter überliefert worden ist. Die Glocken dieser
Periode, die die Form von Bienenkörben hatten, werden deshalb auch
noch heute unter der Sammelbezeichnung »Theophilusglocken«
zusammengefaßt. Für diese klösterliche Kunst des Glockengießens
sind mehrere Abteien bedeutend geworden:
Fulda, Erfurt, St. Gallen, Salzburg, Tegernsee und nicht zuletzt die Reichenau.
Die älteste Glocke dieser Art aus Canino steht heute in den Vatikanischen
Museen. Deutschland besitzt noch etwa 15 solcher »Theophilusglocken«,
wobei besonders die »Lullusglocke« in Hersfeld (102 cm Durchmesser)
erwähnt werden soll. Die Klöster haben das Gießerprivileg
noch bis in das 12. Jh. wahrgenommen, bis dann im Zuge der allgemeinen
Verbürgerlichung der Handwerkskunst auch die Herstellung der Glocken
in die Hände von Laien überging. Als hervorragende Meister sind
die Glieder der Familie van Wou, insbesondere Gerhard van Wou aus Kampen
(NL) zu nennen, von deren Glocken viele die Jahrhunderte überdauert
haben, z.B. die berühmte 230 Ztr. schwere Erfurter »Maria gloriosa«
von 1497 und der Braunschweiger »Blasius major« von 1502. Aus
der Folgezeit stammt auch die größte Glocke der Welt: 1732 wurde
in Moskau der »Glockenkaiser« mit einem Gewicht von 192 Tonnen
und einem Durchmesser von 6,10 Meter gegossen. Die Glocke erklang freilich
nie, da sie beim Aufhängen abstürzte. Trotz klanglicher Verbesserungen
in diesem Jahrhundert – man weiß heute genauer um die Gesetze der
Innenharmonie – ist es selten gelungen, den prächtigen Glockentypus,
wie er im späten Mittelalter aufkam, noch wesentlich zu verbessern.
Die
Glocken von St. Ottilien
Der Glockenreichtum Europas hat mehrfach
einschneidende Aderlässe erlebt, so im Dreißigjährigen
Krieg, in den Revolutionen in Frankreich und Rußland, im Ersten und
vor allem im Zweiten Weltkrieg, wo allein in Deutschland 42.583 Glocken,
77% des ganzen Glockenbestandes, für Kriegszwecke beschlagnahmt und
zerstört wurden. Auch das erste Ottilianer Geläut aus der Augsburger
Glockengießerei Hamm von 1905, das aus sechs Glocken (h0,
d1, e, fis, a, h) mit einem Gesamtgewicht
von 125 Zentnern bestand, endete so im Jahre 1941 auf dem »Hamburger
Glockenfriedhof«.
Nach der Rückgabe des von den Nazis
beschlagnahmten Klosters an die Mönche standen zunächst andere
Sorgen im Vordergrund. Erst zum Benediktusjubiläum 1947 – dem 1400. Todestag
des Heiligen – erklang in St. Ottilien wieder eine erste Bronzeglocke.
Sie war aus vier Fünfteln Kupfer und einem Fünftel Zinn von Carl
Czudnochowsky in Erding gegossen worden. Diese »Benediktusglocke«
(in b0) bildete die einsame Grundlage für
das erste Ottilianer Nachkriegsgeläute, das allerdings aus einem anderen
Glockenmaterial, aus Euphon (Messing mit einem geringen Zusatz von Silikaten),
bestand. Die Beschaffung des Messings hatte die Gemeinschaft vor einige
Schwierigkeiten gestellt. Der beauftragte Pater klaubte sich die Metallteile
zum Teil aus alten Kampfflugzeugen auf dem benachbarten Fliegerhorst Penzing zusammen.
P. Frumentius berichtete später: »Ich faßte die Aktion
als eine Art Kompensation auf, für das, was uns das Dritte Reich unrechtmäßig
zerschlagen hatte, vor allem durch die Klosteraufhebung. Aber nun waren
wir mit Materialien genügend versorgt, tauschten teilweise um in Messingkartuschen
und ließen vier oder fünf Euphonglocken zur Benediktusglocke
hinzugießen. Und mit dem Gelingen kam mir der Gedanke, daß
wir eigentlich noch eine ganz große Glocke haben sollten«.
So entstand, nachdem der Glockenstuhl wesentlich umgebaut wurde, die 106
Zentner schwere Hosannaglocke in fis0,
die am 21. Oktober 1949 in den Turm aufgezogen werden konnte. Mit ihrem
Durchmesser von 2,21 m paßte diese allerdings – anders als alle bisherigen
Glocken – nicht durch die »Heilig-Geist-Öffnung« im Chorgewölbe,
so daß sie mit vier Flaschenzügen quer über das Dach des
linken Seiten- und Querschiffes hinweg in den Glockenstuhl gebracht werden
mußte. Zum großen Erschrecken aller paßte ihr Klang nicht
zu den anderen Glocken, so daß man vor die traurige Alternative gestellt
wurde: Entweder die »Hosanna« oder das übrige Geläut.
Man entschied sich dafür, die »Hosanna« zu behalten. Es
wäre auch gar nicht möglich gewesen, eine so große Glocke
wieder zu zerschlagen, um sie einzuschmelzen. Und so wurden die anderen
Glocken durch ein Geläute aus Zinnbronze mit den Tönen a0
– h0 – cis1
– e1 – fis1
– gis1 ersetzt. Die Gießerei, der
die mangelnde Abstimmung ja auch peinlich war, hatte sich zu diesem Umtausch
bereit erklärt. Das neue Bronzegeläut wurde am 4. November 1950
von Bischof Aurelian Bilgeri OSB konsekriert und dann aufgezogen. Es schlägt
und läutet bis heute. Mögen diese Glocken noch lange ihre Aufgabe
zur größeren Ehre Gottes erfüllen, das Heilige in unseren
Alltag hineinholen und zu einer christlichen Weltgestaltung aufrufen:
Alte Läuteordnung von 1956
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LAUDO DEUM VERUM
PLEBEM VOCO
CONGREGO CLERUM
DEFUNCTOS PLORO
PESTUM FUGO
FESTA DECORO
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"Den wahren Gott lobe ich
und rufe das Volk.
Ich versammle den Klerus
und betraure die Toten.
Die Seuche verjage ich
und ziere die Feste!"
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DIE GLOCKEN
DER ERZABTEI ST. OTTILIEN
CD, 79 Min., Ersch. 2006,
Artikel-Nr. EOS 4055, EUR 12.80
Das achtstimmige Geläute
der Erzabtei St. Ottilien, gegossen von Carl Czudnochowsky, wird mit 35
Tracks (79 Minuten) erstmals auf einer umfangreichen CD (hrsg. von P. Tobias
Merkt OSB) vorgestellt. Die verschiedenen Kombinationen sind aus der umfangreichen
Läuteordnung (PDF) ausgewählt, die ein Beispiel benediktinischer
Sorgfalt für die Liturgie darstellt. Hinzu kommen 7 Stücke eines
Glockenspiels, eine interessante Variante des Melodien- und Einfallreichtums.
Faszinierend für Musiker,
Glockenfreaks und für alle, die eine Freude am Geläute der acht
Glocken von St. Ottilien haben. Booklet
zur CD mit zahlr. Bildern und Informationen (PDF)
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VIDEOCLIP: DIE 3 GROSSEN GLOCKEN VON ST. OTTILIEN
Die drei großen Glocken
h°, a° und fis° der Erzabteikirche einzeln in Aktion.
Insgesamt: fis°-a°-h°-cis'-e'-fis'-gis'-h',
gegossen von Carl Czudnochowsky (Erding,1949 und 1950).
Die große Glocke "Hosanna"
wiegt 5250kg.
Videoclip
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Übrigens:
Die Benediktinererzabtei St. Ottilien besitzt das tontiefste Geläute
in der Diözese Augsburg. Es besteht aus folgenden acht Glocken, die
Sie auch läuten können, wenn Sie auf das Lautsprechersymbolklicken:
1.)
Hosanna - Salvatorglocke (Euphon)
Nominal fis0+1,
Durchmesser 218 cm, Gewicht ca. 5250 kg
gegossen 1949 von Firma
Czudnochowsky, Erding
2.) Gloriosa
Nominal a0-1,
Durchmesser 183 cm, Gewicht ca. 3500 kg
gegossen 1950 von Firma
Czudnochowsky, Erding
3.) Assumpta - Jubiläumsglocke
Nominal h0-1,
Durchmesser 158 cm, Gewicht ca. 2250 kg
gegossen 1950 von Firma
Czudnochowsky, Erding
4.) Annuntiata - Angelusglocke
Nominal cis1+/-0,
Durchmesser 143 cm, Gewicht ca. 1750 kg
gegossen 1950 von Firma
Czudnochowsky, Erding |
5.) Ottilienglocke
Nominal e1+1,
,Durchmesser 119 cm, Gewicht ca. 1050 kg
gegossen 1950 von Firma
Czudnochowsky, Erding
6.) Apostelglocke
Nominal fis1+1,
Durchmesser 102 cm, Gewicht ca. 650 kg
gegossen 1950 von Firma
Czudnochowsky, Erding
7.) Hl. Ulrich und Konradsglocke
Nominal gis1+1,
Durchmesser 88 cm, Gewicht ca. 450 kg
gegossen 1950 von Firma
Czudnochowsky, Erding
8.) Benediktusglocke
Nominal h1+1,
Durchmesser 80 cm, Gewicht ca. 350 kg
gegossen 1950 von Firma
Czudnochowsky, Erding |
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UT IN
OMNIBUS
GLORIFICETUR
DEUS
2008 by P. Siegfried Wewers OSB
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