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Was ist das Sein? Heideggers Einführung in die Metaphysik




Thema: Heidegger, „Einführung in die Metaphysik“ Teil 2

Die Frage nach dem Wesen des Seins

Heidegger wendet sich in diesem Kapitel einer empirischen Betrachtung des Wortes „Sein“ zu. Zunächst untersucht Heidegger also hier den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „Sein“ unabhängig von seiner metaphysischen Bedeutung. Heidegger stellt dabei zunächst fest, dass das Wort „Sein“ Infinitive bildet. Dies zeigt sich zum Beispiel in der allseits gern genutzten Wendung „Das ist einfach so“. Deshalb ist jedes Objekt der Welt Teil des Beweises. Jedes Fahrzeug, jeder Baum, jeder Stein, jedes Atom oder auch der Mond zeichnen sich dadurch aus, dass sie zunächst einmal sind. Heidegger schränkt gleichzeitig ein, dass die Frage nach einem tatsächlich eigenständigen Sein nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann. Dinge, die als Seiend erscheinen, könnten nun ebenso Produkte unserer eigenen Gedanken sein1. Wenngleich diese Frage also nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann, ist sie für Heidegger an dieser Stelle nicht Gegenstand der Untersuchung. Stattdessen beschränkt er sich auf die Dinge, wie sie uns im Alltag erscheinen. Dies führt zu der ambivalenten Feststellung, dass der Begriff des Seins auf der einen Seite eine weitgehend leere Bedeutung besitzt und auf der anderen Seite kann man in der empirischen Welt recht eindeutig Sein vom Nicht-Sein unterscheiden. So ist die Annahme, dass die Ruhr-Universität ist und ein Einhorn nicht ist durchaus korrekt. Auf Grund dieser Ambivalenz kann der Begriff Sein also nicht leer sein. Heidegger versucht dem Begriff Sein deshalb selbst ein Sein zu geben. Am Beispiel eines Baumes erklärt er über die verschiedenen Wesensarten eines Baumes das Sein eines Baumes. Über diese Systematisierung ließen sich schließlich Unterarten von Bäumen erstellen, wodurch ein neues Sein geschaffen würde2. Der Begriff Sein bezeichnet also die Wesensarten eines Dinges, das ein Sein besitzt. Heidegger nennt an dieser Stelle einen ihm vorgeworfenen Fehler. Da ja das Sein das absolut Höchste und Unabhängigste darstellt, kann man dabei nicht die kleineren und sehr speziellen Wesensarten des Seienden vergleichen. Heidegger nennt dazu zwei Gegenargumente:

Zunächst unterscheidet Heidegger zwischen dem absoluten Sein und dem konkreten Sein eines Gegenstandes. Diese Teilung erinnert an seine Trennung eines Nichts und dem nicht.
Zum Nachweis der Bedeutung des Wortes Sein baut Heidegger nun auf Seite 62 ein gedankliches Konstrukt. Angenommen wir trügen keine feste Bedeutung des Wortes Sein in uns, dann wäre die Konsequenz davon, dass es keine Sprache gäbe. Seiendes definiert sich hier bei Heidegger dadurch, dass es angesprochen werden kann. Ein Sein qualifiziert sich nicht darüber, dass über es gesprochen wird, aber der Mensch schafft Sein, indem er Seiendes vergegenständlicht. Dies ist ebenso die Unterscheidung von Tier, Pflanze und Gott
3. Durch dieses Konstrukt hat Heidegger nun die Bedeutung des Wortes Sein bewiesen. Er fährt nun fort und erklärt wie dieser Begriff gewürdigt werden kann.

Heidegger sieht diese Möglichkeit in dem Entdecken und dem Erfragen des Seins. Wie eben erläutert, zeichnet sich ein seiender Mensch durch die Möglichkeit des Fragens aus und so soll er nach Heidegger auch durch Annäherung seines Seins das Sein erkennen. Nur durch die Erkenntnis des Sinnes des Seins ist es dem Menschen möglich sich „geschichtlich wirklich“4 zu machen.

Der Sinn des Seins ist nun also auch nicht mehr auf der Ebene des Weltlichen zu suchen. Der Mensch kann nur in der Erkenntnis des absoluten Seins geschichtlich werden. Während Heidegger in Buch zwei bereits die Grammatik und die Etymologie des Wortes untersucht hat, wendet er sich nun der Bedeutung des Begriffes zu. Diese Bedeutung findet sich bei weltlichen Dingen in drei Formen. 1. In der Wortgestalt, 2. in der allgemeinen Bedeutung des Wortes und 3. in einem einzelnen, konkreten Gegenstand. Gleichzeitig ist dem Begriff des Seins eine besondere Bedeutung geschuldet. Das Sein unterscheidet sich zu weltlichen Dingen in der Tatsache, dass das Sein keinen fassbaren Gegenstand in der empirischen Welt besitzt. Die Bedeutung besitzt deshalb nicht den konkreten Bezugspunkt, der sich in den Ebenen zwei und drei zeigt. Der Zusammenhang zwischen dem Wort und der Bedeutung des Seins muss also viel enger und wesensverwandter sein5. Die Bedeutung und Anweisung des Begriffes muss deshalb auch besonders untersucht werden. Heidegger untersucht diese Bedeutung an dem einfachen Satz „Etwas ist“. In verschiedenen Beispielen erläutert er die zunächst unterschiedliche Bedeutung des Wortes „ist“. Etwas ist wirklich gegenwärtig oder etwas ist in einer bestimmten Eigenschaft. Außerdem zitiert er Goethe Wandrers Nachtlied: „Über allen Gipfeln ist Ruh“. Hier besitzt das „ist“ keine spezifische Bedeutung. Heidegger zieht die Schlussfolgerung, dass die Bedeutung des „ist“ vielfältig und keinesfalls leer ist. Der Einwand liegt allerdings nahe, genau das Gegenteil zu behaupten. Dadurch, dass die Bedeutung ebenso vielfältig gebraucht wird, wird der Begriff zu einem leeren Wort. Heidegger verweist darauf, dass die verschiedenen Bedeutungen nur im Rahmen des unterschiedlichen inhaltlichen Kontextes entstehen, der allerdings nichts mit der Bedeutung des „ist“ an sich zu tun hat. Grundsätzlich zurückweisen möchte er die Kritik dennoch nicht, stellt sie aber zumindest zurück. Gleichzeitig weist er ebenso auf die durchgängige Konstante hin, die dem Wort „ist“ zu Eigen ist. In jedem der genannten Fälle bezeichnet „ist“ etwas, dass anwesend und gegenwärtig ist bzw. das Bestand hat.

Das Sein definiert sich also über das „ist“ und besitzt damit dieselbe Bedeutung, die Heidegger im zweiten Buch in der griechischen Philosophie als Anwesenheit ausgemacht hat6.

Die Beschränkung des Seins

Während Heidegger in Kapitel 3 maßgeblich die Bedeutung des Wortes Sein im Indikativ „ist“ wieder fand, versucht er in Kapitel 4 das Sein über die Abgrenzung zu erfahren. Schon formelhaft, so sagt er, würde man dem Sein gewisse Sachen entgegensetzen. Im einzelnen seien dies „Sein und Werden“, „Sein und Schein“, „Sein und Denken“ und „Sein und Sollen“, die er nachher kapitelweise abhandelt, wobei „Sein und Denken“ den Kernpunkt seiner Arbeit darstellt. Ziel dieser Abgrenzung soll sein, den Begriff Sein nicht mehr als leeres Wort wahrzunehmen. Diese Empfindung soll dabei nicht bloß erkannt, sondern Teil des geschichtlichen Daseins werden.

Die Auswahl der vier Gegensätze ist dabei nicht willkürlich, sondern spiegelt zum einen den Verlauf der Philosophie bis zur Neuzeit in Bezug auf das Sein wider. „Sein und Werden“ sowie „Sein und Schein“ waren Gegenstände der antiken griechischen Philosophie. „Sein und Denken“ findet auch dort ihren Ursprung, kommt allerdings erst in der Neuzeit zur Geltung. Die Unterscheidung „Sein und Sollen“ ist Thema der neuzeitlichen Philosophie. Dadurch, dass Heidegger plant das Sein von den Genannten abzugrenzen, wird schon deutlich, dass Heidegger hier eine Neudefintion anstrebt.

Sein und Werden

Zu Beginn dieser Unterteilung bezeichnet Heidegger diese Entgegensetzung als die geläufigste Beschränkung überhaupt. Der Grund zeigt sich in der Tatsache, dass ein Seiendes niemals mehr werden braucht, da es banalerweise bereits ist. Ein Sein kann allenfalls in der Vergangenheit geworden sein.

Heidegger sieht sich nicht als Entdecker dieser Abgrenzung, sondern würdigt an dieser Stelle explizit Parmenides, der in seinen Lehrgedichten diese Trennung umschrieb7.

Sein und Schein

Sein und Schein“ besitzt zum einen die bekannte Unterscheidung, dass etwas wahrhaft ist oder nur der Schein eines Seins ist. So stellt der Mond am Abendhimmel ein wahrhaft Seiendes dar, ein Regenbogen hingegen ist vielmehr Schein als Sein, da er nur eine optische Täuschung darstellt. Heidegger versucht außerdem über eine spezifische griechische Deutung der Unterscheidung auf den Grund zu gehen, die vielmehr eine Zusammengehörigkeit der Begriffe nachweisen soll.

Heidegger beschreibt dazu drei Formen des Scheins. Die erste Form ist im Sinne eines Leuchtens, zum Beispiel der Sonne. Die zweite bedeutet ein Erscheinen im Sinne eines Auftretens. Die dritte Form ist der Anschein, der letztlich ein Irrtum ist. Das Wesen des Scheins liegt dabei in der zweiten Form des Erscheinens, da sich die Formen eins und drei nur unter der Bedingung des Erscheinens darstellen können. Ebenso wiederlegt Heidegger in seiner Argumentation die geläufige Deutung der klassischen griechischen Philosophie als Realismus mit einem objektiven Sein, das durch die Vernunft erschlossen werden kann. Hingegen deutet Heidegger das Sein in der griechischen Philosophie als „Erscheinen“. Alles Sein versteht sich also nur dadurch, dass es etwas zum Vorschein bringt8. Alles Sein ist also notwendig ein Schein, wohingegen allerdings ein Schein nicht notwendig ein Seiendes werden muss, sondern kann auch zu einem bloßen Anschein in Folge einer Meinung werden. Anhand der griechischen Philosophen Sophokles und Parmenides versucht er die Scheidung Sein und Schein genauer zu definieren. Mit Hilfe von Sophokles letztem Chorlied der Tragödie9 beschreibt Heidegger das griechische Verständnis, dass der Schein nicht minder prächtig sei als Unverborgenheit. Der Schein macht außerdem Seiendes zum Seienden, was es nicht ist und gleichzeitig macht sich der Schein zum Sein, und damit auch zu etwas was es nicht ist. Aus diesem Grund gibt Heidegger dem Spruch „Der Schein trügt“ auch vollkommen Recht. In der Folge wurde es aber nötig, Sein vom Schein bzw. die Wahrheit gegen die Verborgenheit abzugrenzen. Im Zuge dessen kam es zu den inhaltlichen Unterscheidungen von Sein und Nicht-Sein, sowie Nicht-Sein und Schein. Aufgabe des Menschen ist es deshalb Sein und Schein dem Abgrund des Nicht-Seins zu entreißen10.

Heidegger setzt sich im folgenden Abschnitt mit der Theorie von Parmenides in Bezug auf das Sein auseinander. Insbesondere bezieht er sich auf die Fragmente 4 und 6 seines Hinterlasses. Aus Fragment 4 betont Heidegger zwei besondere Thesen. 1. Der Weg zum Sein ist der Weg in die Unverborgenheit und stellt einen unumgänglichen Prozess dar. 2. Der Weg zum Nicht-Sein ist nicht gangbar und muss deshalb durch seine Führung zum Nichts für die Wissenschaften besonders betont werden. Das Nichts wird aber dennoch von Parmenides eigens bedacht. Seine Zugehörigkeit zum Nichts widerspricht keinesfalls seiner Zugehörigkeit zum Sein, sondern muss als notwendiger Teil dessen verstanden werden. In Fragment 6 sieht Heidegger eine zur ersten These widersprüchliche Aussage. In diesem dritten Weg beschreibt Parmenides die subjektiven Ansichten des Menschen, die zu einer Verklärung der Grenzen zwischen Sein und Schein führen. Der Schein wird also auch hier als zugehörig zum Sein dargestellt. Ein wissender Mensch ist sich nach Heidegger also dem Sein, dem Schein und der Ansicht bewusst11.

Abschließend knüpft Heidegger die Verknüpfung von „Sein und Schein“ zu „Sein und Werden“. Das Werden beschreibt demnach den Übergang zum Sein. Ein Werdendes ist weder vollends Nichts noch Seinendes. Es steht zwischen diesen Zuständen und so verkündet Heidegger: „Wie das Werden der Schein des Seins, so ist der Schein als Erscheinen ein Werden des Seins“12. Beide Gegensatzpaare finden also nicht recht zueinander, sondern lassen sich nur durch eine Einordnung in den Prozess der Seins-Werdung zusammen bringen. Um diesem Konflikt Herr zu werden beschreibt Heidegger im nächsten Abschnitt des Buches IV die Trennung von „Sein und Denken“.

Sein und Denken

Der dritte Abschnitt Sein und Denken stellt den wichtigsten Abschnitt aus „Die Beschränkung des Seins“ dar und ist deshalb auch mit knapp 60 Seiten der mit Abstand längste Abschnitt. Heidegger begründet die Stellung dieses Kapitels damit, dass das Denken letztlich erst die Grundlage für alles andere sei. Ohne Denken seien wir zum Beispiel nicht in der Lage Sein von Schein zu unterscheiden, weswegen die Scheidung von Sein und Denken hierarchisch am Höchsten steht. Weiterhin stehen Schein und Werden auf der Ebene des Weltlichen. Denken hingegen steht auf einer Ebene mit dem Sein selbst und muss deshalb besonders von diesem abgegrenzt werden. Dennoch steht das Denken kategorisch vor dem Sein, da es ohne Denken überhaupt kein Sein gäbe. Mit der Scheidung von Sein und Denken plant Heidegger die Meinung zu überwinden, dass sich das Sein nur über das Denken definiert. Zwar begründet das Denken das Sein, jedoch liegt es nicht im Wesen des Denkens, dem Sein einen Sinn zu geben. Heidegger plant den genauen Sinn des Seins in Abgrenzung vom Denken zu bestimmen. Heidegger beschreibt die Qualität des Denkens über etwas Seiendes anhand von drei Attributen:13

1. Vorstellen „von uns aus“ stellt ein eigentümlich freies Verhalten dar.

2. Vorstellen stellt ein stetiges zergliedern und verbinden dar.

3. Vorstellen heißt in letzter Konsequenz das Fassen des Allgemeinen.

Je nach Qualität der Vorstellung ist das Denken demnach reichhaltig oder unergiebig. Daraus erschließt sich allerdings noch nicht seine bevorzugte Stellung zum Sein. Heidegger beschreibt eine moderne Vorstellung nach der Denken ein Teil der Logik sei. Denken beruhe demnach auf Logik und die Logik erlaube es eine Aussage über etwas zu treffen. Heidegger sieht allerdings genau diese Sichtweise als Problem an. Letztlich ließe sich das tiefliegende Wesen des Denkens gerade nicht über die abstrakte Form der Logik erfassen, da es die Logik gewesen sei, die das Sein eines Wesens nur durch Gedankenkonstukte zu erfassen vermag. Die Logik sei nunmehr eine Erfindung der Schullehrer und nicht der Philosophen14. Denken und Logik sind also entgegen der modernen Vorstellung keinesfalls Eins. Es wäre deshalb auch verkehrt mit der Logik auf das Denken zu verzichten und zur „Herrschaft bloßer Gefühle“15 zu kommen, sondern Denken soll in seinem Wesen strenger und ursprünglicher sein.

An Stelle der Logik versucht Heidegger nun das Denken in Zusammenhang mit dem Logos zu setzen, der insbesondere in der klassischen Philosophie von Heraklit, Platon und Parmenides eine Bedeutung hatte. Auf diese Philosophen wird er im Laufe seiner Argumentation auch weiter eingehen. Wie auch im Grund der Metaphysik sieht Heidegger auch hier viele aufgekommene Missverständnisse, die er zunächst ausräumt. So kündigt er schon auf Seite 96 den Nachweis einer Bedeutung des Logos als „Sammlung“ an.

In Heraklits Fragmenten 1 und 216 besteht die moderne Deutung des Logos als Logik oder Vernunft. Heidegger kann nachweisen, dass in Heraklitschem Kontext der Logos als „Gesammeltheit des Seinenden, d.h. das Sein“ zu verstehen ist.

In besonderem Maße gilt für seine Auslegung von Parmenides, dass sie der bisherigen Deutung widerspricht. Diese deutete Parmenides zentrale Aussage „Dasselbe ist Sein und Denken“ als Subjektivismus der Welt. Dadurch, dass das Sein dasselbe wie das Denken ist, besteht Sein 1. nur wenn es gedacht wird und 2. nur wie es gedacht wird. Heidegger versucht Parmenides streng im klassischen griechischen Verständnis zu deuten. Heidegger übersetzt das griechische Original zu „Dasselbe sind aufnehmen und Sein“. Nicht also Denken und Sein sind Eins, sondern das Aufnehmen bzw. das „zum Stillstand bringen“ des Seins. Sein bedeutet also das Erkennen eines jetzt objektiven Seins. Dies impliziert für Heidegger ebenso, dass der Mensch ebenso Seiendes ist und sich deshalb über seine Position zum Ganzen des Seins definiert17.

Anhand von Sophokles beschreibt Heidegger die Beziehung von Sein und Mensch näher. Kernbegriff von Sophokles Chorgesang ist der Begriff „Das Unheimliche“. Unheimlich ist dabei ambivalent zu deuten: Es bedeutet einmal das gewaltige Walten des Seins, dem der Mensch ausgesetzt ist. Zum anderen ist der Mensch selber Teil dieses „unheimlichen“ Seins, indem er einfach ist. Der Ausdruck „unheimlich“ ist hier allerdings nicht als Ausdruck eines Gefühlszustands zu deuten, sondern als Ausdruck der Gewalt und des Überwältigenden. In dieser Feststellung liegt die Spannung, dass Menschen als Seiende zugleich Schaffende sind, die Seiendes schaffen. Heidegger beschreibt diesen Prozess als „Ins-Werk-setzen-können“18. Durch das Ins-Werk-setzen-können erkennt der Mensch die Möglichkeit des „Zwischen-falls“19, „in dem plötzlich die Gewalten der losgebundenen Übergewalt des Seins aufgehen und ins Werk der Geschichte eingehen“20.

Dennoch stellt sich die Frage, wie es zur Betonung des Denkens gegenüber des Seins kommt. Heidegger greift auch hier auf die klassische Philosophie zurück und erklärt die Bedeutung des Denkens anhand von Platon. In Platons Philosophie stellte die Idee das Wesen des Seins. Das Sein zeigt sich allerdings in zwei Qualitäten: 1. Dem einfachen äußeren Erscheinungsbild und 2. Dem Sein hinter diesem Erscheinungsbild. Nach Heidegger sei es gerade ein Problem der Moderne, die einfache Form des äußeren Erscheinungsbildes außer Acht zu lassen, da letztlich Seiendes im Aussehen aus der Verborgenheit hervortritt. In der Idee hingegen liegt das Sein des Seienden. Die Idee zeigt sich also durch sein Sein und durch den Logos, der die Idee erschließt. Ohne die faktische Erkenntnis sind Sein und die Idee also identisch. Erreicht also im Gegensatz ein Abbild sein Urbild nicht, ist es für Heidegger „Abfall“21 und nicht Seiendes. Während dabei nun Denken bzw. Logos nur noch über Seiendes geschieht, bestimmt auch der Logos nun die Wahrheit einer Aussage. Wohingegen Wahrheit vorher als Unverborgenheit des Seins charakterisiert war, wird sie nun Eigenschaft des Logos. Dies bezieht sich gleichermaßen auf die Wahrheit des Seienden als auch die Wahrheit des Seins.

Die Bedeutung des Logos zeigt sich zum Beispiel empirisch darin, dass zwei Seiende im logischen Widerspruch nicht gleichzeitig wahr sein können.

Eine zentrale Eigenschaft des Seins ist für Heidegger die Beständigkeit und ständige Anwesenheit22. Die Wahrheit seines Seins ist stets a priori bzw vor aller Erkenntnis. Was nun fast als Widerspruch zur Erkenntnis der Wahrheit des Seins durch den Logos erscheint, versucht Heidegger über den Glauben des Christentums zu erklären23. Seiendes ist also ursprünglich Schöpfung Gottes und besitzt durch Gott a priori eine Wahrheit. Sobald sich allerdings die Vernunft des Menschen in den Vordergrund spielt, folgt auch eine Erschließung der Wahrheit des Seins über den Logos. Das Denken wird damit „der tragende und bestimmende Grund des Seins“24.

Sein und Sollen

Im Gegensatz zum Denken, dass die Grundlage bildet, stellt das Sollen ein Art Ziel dar. In einer Skizze setzt er das Sollen deshalb über das Sein, wohingegen das Denken unter dem Sein steht. Das Sollen überhöht also das Sein.

Hier zeigt sich schon der Verweis auf ein höheres Sein, welches bereits Platon in der Idee des Guten skizziert hatte. Sie ist also in ihrem Sein vorbildhaft für alles Seiende. So zeigt sich also, dass bereits jedes Sein den Bezug zu ihrem Gesollten in sich trägt.

Im Zuge der Ausgestaltung des Denkens bzw. des Logos in der Neuzeit erwarb sich die Scheidung Sein und Sollen besonders unter Kant neue Geltung. Kant ordnete dem Sein die Natur zu. Das Sollen entsprach seinem kategorischen Imperativ. Auch Fichte machte die Scheidung Sein und Sollen zum Grundgerüst seines Systems. Mit dem Übergang in die Moderne gewinnt Kants Auslegung von der wissenschaftlichen Natur als Seiendes weiter an Bedeutung, wodurch das Sollen im Verhältnis zum Sein notgedrungen an Wert verliert. Heidegger fordert deshalb, dass das Sollen sich durch Werte aus sich selbst neu begründen soll. Da aber die Werte wiederum aus dem Bereich des Seienden kämen, reduziert Heidegger den Wert des Sollens auf Geltung. Das Gesollte besitzt Geltung im Bereich des Seienden. Geschichte als Orientierung am Gesollten wird dadurch zur Verwirklichung von Werten25. Heidegger geht soweit und formuliert die vorbildhaften Ideen Platons auch zu Werten um.

Im Zuge dieser Rückbesinnung auf die Werte findet sich an dieser Stelle auch die oftmals kritisierte Stellungnahme zum Nationalsozialismus26, die Heidegger selbst auf flehen seines Verlegers nicht aus dem Text nahm.

Fazit

Heidegger fasst am Ende des Buches seine Ergebnisse noch einmal zusammen und formuliert seine Forderungen für die philosophische Forschung nach ihm. Nachdem zunächst der Begriff des Seins als unbestimmt und schwammig erschien, konnte Heidegger in den vier Abgrenzungen die Eigenschaften der ständigen Anwesenheit nachweisen27. Das Problem sei aber eben gerade, dass man sich dessen nicht mehr bewusst sei, so dass der Begriff sich vernebele. Insbesondere in den vier Abgrenzungen vom Sein Werden, Schein, Denken und Sollen sieht Heidegger den Beweis, dass selbst diese Begriffe keineswegs Nichts sind. Da sie aber nicht dem Begriff des Seins entsprechen von dem Heidegger sie abgegrenzt hat, müssen sie ein anderes Sein besitzen. Da bereits die Bedeutung der Scheidung Sein und Denken deutlich gemacht wurde, sieht Heidegger die Grundlage auch weiterhin in einer philosophisch-anthropologischen Forschung. Da der Mensch Da-Sein besitzt, müsse er aus dieser Blickbahn das Sein erforschen können28. Ebenso verhält es sich mit der Zeit. Da die Zeit seit Aristoteles als seiend und anwesend begriffen werden kann, stellt sie auch die Blickbahn für die Anwesenheit des Seins29.


Literaturverzeichnis

Heidegger, Martin: Einführung i.d. Metaphysik, 4. unv. Auflage, Niemeyer, München, 1976

Pöggeler, Otto: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Alber, Freiburg, 1983

Thomä, Dieter: Heidegger Handbuch, Metzler, Stuttgart, 2003


Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich Textbelege auf Heidegger „Einführung i.d. Metaphysik“.

1Vgl. S.58

2Vgl. S.60/61

3Vgl. S.63

4Vgl. S.64

5Vgl. S.67

6Vgl. S.46-48

7Vgl hierzu: Parmenides, Hölscher: Vom Wesen des Seienden, Frankfurt/Main, 1986

8Vgl. S.77

9Vers 1189ff

10Vgl. S.84

11Vgl. S.86

12Vgl. S.88

13Vgl. S.91

14Vgl. S.92

15Vgl. S.94

16

17Vgl. S.106

18Vgl. S.117

19Vgl. S.125

20Vgl. S.125

21Vgl. S.141

22Vgl. S.147

23Vgl. S.147

24Vgl. S.149

25Vgl. S.151

26Vgl. S.152

27Vgl. S.154

28Vgl. S.156

29Vgl. S.157

S. 7