Das Dienstmädchen in seinem Reich


Zum Tode von Charlotte von Mahlsdorf


Fast alles an ihr war merkwürdig und seltsam entrückt. Und zugleich hat wohl keine schwule Ikone der letzten Jahrzehnte so sehr den Weg zu den Menschen gefunden wie Charlotte von Mahlsdorf.

Spätestens seit dem Erscheinen ihrer Autobiografie 1992 war sie zum Ereignis geworden; sie wurde in fast sämtliche Talkshows eingeladen, Tausende pilgerten zu ihren Lesungen und niemanden wunderte das mehr als sie, die nie etwas anderes tun wollte als Altes zu bewahren und die nie mehr sein wollte als ein "ordentliches Dienstmädchen".

Doch kein Zweifel, Charlotte von Mahlsdorf war vor allem eine Besessene: eine besessene Sammlerin von Möbeln, Pianolas und Grammofonen, eine besessene Retterin von Schlössern und Gutshäusern. Mit sechs Jahren schon führte sie Nachbarn durch ihr Museum, damals im Stall des Großonkel-Hauses. Ein Refugium, das sie ausstaffierte mit den Möbeln, die auch der geliebte Großonkel bevorzugte. Gründerzeitliches. Der Rest ist bekannt und oft erzählt worden, am besten von ihr selbst in ihren beiden Bücher "Ich bin meine eigene Frau" und "Ab durch die Mitte".

"Ich werde nicht so alt" war Charlotte immer überzeugt und ihre kräftigen Oberarme und ihr krummer Rücken, krumm geworden bei dem Versuch, einiges geradezurücken, waren ihr Zeuge: "Ich hab einfach zu viel gearbeitet."

Doch in einem höheren Sinne hat sie das menschliche Maß an Lebensjahren weit überschritten, weil sie als die letzte authentische Zeugin der Gründerjahre, jener Zeit zwischen 1870 und 1890, gelten konnte. Sie lebte in dieser Epoche, hatte sich alles angeeignet, es aufgesogen wie ein Schwamm, weil es zu ihr gehörte, es ihre Zeit war. "Eigentlich", so bekannte sie nicht ohne verschmitzten Sinn für das Überkommene ihrer Erscheinung, "bin ich ja schon 120 Jahre alt."

Mahlsdorf

Es war stiller um sie geworden in den letzten Jahren - und wohl auch ein bisschen einsam. Doch war es das eigentlich immer. Niemand bekam wohl je einen zureichenden Einblick in ihre Welt, die zeitlich und vom Wesen her so unendlich weit weg ist, dass längst keine Brücke mehr zu ihr führt. Und zugleich - wie ergreifend es doch war, wenn sie jene Zeit wieder aufleben ließ, wie nur sie es vermochte. Denn Möbel und Gemäuer waren nicht das Einzige, wofür Charlotte sich interessierte; immer hatte sie die Geschichten der Menschen parat, die diese Möbeln dereinst hergestellt oder erworben hatten, die in den Gründerzeithäusern gelebt und geliebt hatten. Dabei konnten die Geschichten über "einfache Leute" und Außenseiter in der Regel mehr Platz in Charlottes unglaublichem Gedächtnis Platz beanspruchen als Prominente. Den Handwerkern, den Dienstmädchen, den Kneipenwirten, den Huren und Strichern gehörte Charlottes Sympathie - und natürlich den Juden, die aus ihren Häusern verschleppt worden waren und von deren Möbeln Charlotte einige hatte retten können. Es gehört Niedertracht dazu, Charlotte von Mahlsdorf, wie vor einigen Jahren geschehen, den Vorwurf zu machen, sie habe sich im Zweiten Weltkrieg an der Enteignung jüdischen Besitzes bereichert, nicht eingedenk der Tatsache, dass sie ihn, so es möglich war, den Nachfahren der Ermordeten zurückgegeben bzw. geeigneten Museen gestiftet hat.

1997 verkaufte sie ihr Gründerzeitmuseum in Mahlsdorf an den Senat und wanderte nach Schweden aus, einerseits aus Reaktion auf rechtsradikale Umtriebe, doch mehr wohl weil sie von ihren damaligen Mitarbeiterinnen gedrängt wurde. Es ging von Anfang an schlecht. Die Jahre in Schweden waren verbunden mit Ärger und Agonie. Schon beim Kauf der "Villa Hamilton" in Porla Brunn, zweieinhalb Autostunden von Stockholm entfernt, zahlte sie zu viel Geld. Ihre Mitarbeiterinnen, von denen Charlotte eine adoptiert hatte, verließen sie nicht ohne sie zuvor auszunehmen wie eine Weihnachtsgans.

So hatte sich im Exil erneut jener bescheidene Lebenzuschnitt eingestellt, der charakteristisch war, bevor sie mit ihrer Autobiografie und dem Hausverkauf zu einem kleinen Wohlstand gekommen war: "Ich lebe wieder von meinen 690 Mark Rente oder was das an Euro jetzt so ist, und von dem, was die Leute für die Museumsführungen spenden", sagte sie kurz vor ihrem Tod, und selbst wer viel Sinn für Zwischentöne hat, konnte keine Bitterkeit darin erkennen. Dass ihre früheren Mitarbeiterinnen weg waren - darüber war sie froh. Zum Schluss, so Charlotte in unnachahmlicher Untertreibung, seien sie "richtig impertinent" geworden. Ein vernichtendes Urteil aus dem Mund eines so zurückhaltenden Menschen wie Charlotte von Mahlsdorf.

Nun wollte sie das "Sekelskiftesmuseet" (Jahrhundertwendemuseum) am liebsten einer staatlichen Institution schenken. Die Verantwortung für das zwar schon kleinere Haus abgeben, dessen Renovierungskosten sie nicht mehr tragen konnte, wohl auch müde des endlosen Kampfes gegen undichte Dächer und Schwammbefall, nur mehr als Putzfrau und Museumsführerin mit Wohnrecht leben - das war ihr Wunsch. Doch zierte sich der schwedische Staat, die Kosten gewahrend, die ein solches Engagement unweigerlich nach sich ziehen würde.

Es spricht einiges dafür, dass Charlotte erneut jene mühsame Plackerei vor sich sah - ein Haus vor dem Verfall zu retten und sich mit indolenten Behörden herumzuschlagen -, die sie schon so häufig gemeistert hatte. Doch dazu fehlten wohl diesmal, anders als die unzähligen Male zuvor, die Kräfte. Und Charlotte wusste es.

"Ach, wie oft wünschte ich mir mehr Hände, um möglichst viel zu retten, zu bewahren und zu erhalten", sagte sie oft, und wie unter einem Brennglas kam hier die berserkerhafte Energie dieses Wesens zum Ausdruck, das doch so zerbrechlich und schützbedürftig wirkte wie ein Schmetterlingsflügel.

Die letzten Tage in Berlin - sie lassen sich denn auch interpretieren als ein konsequentes Abschnurren des Lebensrestes, bevor sich die jahrzehntelange Verzehrung der Kräfte in einem plötzlichen schweren Herzinfarkt niederschlug, dem Charlotte von Mahlsdorf am 30. April erlag: Innerhalb weniger Tage beging sie mit ihren Geschwistern den 100. Geburtstag der Mutter, die ihr so viel bedeutet hatte und die 1991 verstorben war; sie eröffnete das Museum Schloss Altranft, für das sie viele Möbel zur Verfügung gestellt hat und das mit ihrem Detailwissen originalgetreu eingerichtet worden ist. Ein letztes Mal noch führte sie, zur Überraschung und Freude der Besucher am Wochenende des 26./27. April durch jenes Haus, das Gründerzeitmuseum zu Mahlsdorf, von dem sie schon früh wusste, dass es "ihr Schicksal" sei.

Innerhalb eines Tages las sie dann die Fassung ihrer Memoiren im Tonstudio ein und abends stand ein Essen im renovierten alten Kaisersaal des Grand Hotels Esplanade auf dem Programm. Dort, mit Sicht auf das Wilhelm-Zwo-Gemälde, schweifte ihr Blick wie üblich nach oben, in ihren steinernen Himmel: "Alles ist originalgetreu restauriert", meinte Charlotte anerkennend, nur an den modernen Lampen, die sich verschämt in der Ecke herumdrückten, nahm die Fachfrau Anstoß. "Und auf den Kamin gehören natürlich nicht zwei Vasen, sondern zwei Leuchter rechts und links und in der Mitte eine Kaminuhr." Selbstverständlich hatte sie einige passende davon auf Lager. Doch war niemand auf die Idee gekommen, sie nach Einrichtungsgegenständen zu fragen. Und diese Frau, die mehr über die Gründerzeit wusste und mehr darüber gelesen hatte als eine Wagenladung voll Kunsthistoriker, drängte sich nie auf. Das schickte sich einfach nicht für ein "einfaches Dienstmädchen" - in ihrer Bescheidenheit war diese Frau maßlos.

Es gibt Halbwahrheiten, die auch dann ganze Lügen sind, wenn sie lange Beine haben. Vor einigen Jahren wurde der Vorwurf laut, Charlotte von Mahlsdorf habe in den siebziger Jahren als "IM" der Stasi zugearbeitet. Nie hat Charlotte das bestritten, es hat sie bloß niemand danach gefragt. Und nur wer Akten, die aus Täterperspektive geschrieben sind, für gelebtes Leben hält und sich um persönliche Anschauung nicht schert, kann auf die absurde Idee kommen, Charlotte von Mahlsdorf habe Menschen an die Stasi verraten und ihnen damit Schaden zugefügt. Sie selbst war in jener Zeit schwersten Drangsalierungen ausgesetzt, in ihrer Not verschenkte sie einen Großteil ihrer Museumshabe an Besucher. So kann jene Darstellung Glaubwürdigkeit beanspruchen, die Charlotte von Mahlsdorfs Leben als eines zwischen allen Stühlen zeichnet, wo es bekanntlich nicht sonderlich bequem zugeht und wo, wer sich mit dem Teufel an eine Tafel zu setzen hat, einen langen Löffel haben muss.

Natürlich bleiben Widersprüche, doch sind sie charakteristisch für jemanden wie Charlotte von Mahlsdorf, die in allem eine Außenseiterin war - auch, so möchte man nicht verhehlen, in der schwulen Szene. Zugleich fügten sich diese Widersprüche auf das Glücklichste zusammen, ergaben ein nur scheinbar wirres Durcheinander. Denn in Charlotte von Mahlsdorf vermischten sich, wie in ihrer geliebten Epoche, deftig-aufbrausendes Barock mit genügsamem Biedermeier, nüchterne, fast schwerelose Gotik mit sehr viel humanistischer Renaissance. Charlotte von Mahlsdorf war ein Fleisch gewordenes Gründerzeitmöbel.

Peter Süß

 

Peter Süß war Lektor und Herausgeber von Charlotte von Mahlsdorfs Büchern.

Charlotte von Mahlsdorf: "Ich bin meine eigene Frau", "Ab durch die Mitte", beide bei dtv. Im August erscheint im Antje Kunstmann Verlag, von Charlotte gelesen, auf drei CDs das Hörbuch von "Ich bin meine eigene Frau".

 

 

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