Das Bewusstsein für den Sitz im Leben der Schriften

Im Augenblick versucht die neuapostolische Kirchenleitung eine Änderung des Sonnenweibverständnisses der Johannesoffenbarung – ohnehin DAS zentrale Kapitel neuapostolischer Theologie – für die Gläubigen, zumindest aber nach außen hin genießbar zu machen. Anlass ist wohl die Sorge, eine Darstellung, welche die nicht-neuapostolische Restchristenheit als nicht einmal „sonnenweibfähig“ einstuft, könnte jegliches ökumenische Miteinander, vor allem aber den Abschied aus der Sektenecke mit Aussicht auf bessere Zutrittschancen zur ACK, von vorneherein verhindern.[break]

Gemäß traditionell neuapostolischem Bibelverständnisses, mit anderen Worten also der kircheneigenen Deutung eschatologischer Offenbarungsaspekte, waren das Sonnenweib versiegelte, aber nicht würdig gewordene Gotteskinder, sprich neuapostolische Christen. Nun wird aus diesem neuapostolischen Deutungsversuch ein christologischer, indem die Kategorie derer, die das Sonnenweib ausmachen, mit der sogenannten „allgemeinen Christenheit“ gleichgesetzt werden (siehe Neue Lehraussage zur Sonnenfrau auf www.nak.org).

Gerade hier nun zeigt sich, wie folgenschwer die Missachtung dessen, was den Sitz im Leben biblischer Aussagen und Texte ausmacht, sein, und eine Glaubensgemeinschaft mit irreführenden Versprechungen zur sektiererischen Sondergemeinschaft abstempeln lassen kann. Aus diesem Grund kommen wir nicht umhin, uns mit der Thematik dessen, was denn Sitz im Leben einer Sache oder Aussage ausmacht, näher auseinanderzusetzen. Dies ist für den Neuling ein ungewohnt großer erster Schritt, der sicherlich gewagt werden will, aber gleichzeitig auch einen Erkenntnisgewinn nach sich zieht, dessen Vorteile unschätzbar werden, wenn es darum gehen wird, hermeneutische Deutungsparameter zur Übertragung biblischer Aussagen in den Gegenwart in Angriff zu nehmen. Doch alles der Reihe nach.

Vorab ein Wort in eigener Sache:

Durch meinen letzten Bibelartikel ausgelöst hatte ich verschiedene Mailanfragen erhalten, ob ich beispielsweise neuapostolische Amtsträger zu Exegeten machen möchte etc..., was ich hiermit verneine. Gerne gestehe ich, dass mich solche Fragen zwar ehren, ich sie aber gleichwohl zurückweisen muss, da ich über keine göttlichen Fähigkeiten verfüge.

Was ich bestenfalls tun kann, ist, die Sinne zu schärfen und die Wahrnehmung zu sensibilisieren für die reale und tatsächliche Problematik des Bibelumgangs von Laien wie von deren Predigern. Dabei sei angemerkt, dass der Begriff „Laien-“ hier als Gegensatz zu fachakademisch gebildeten Predigern und nicht als Gegensatz zu bezahlten „Berufspredigern“ o.ä. zu sehen ist.

Begriffliche Herleitung


„Sitz im Leben“, wie wir diesen Begriff verwenden wollen, ist ein exegetischer Begriff, welcher der sog. formgeschichtlichen Methode (ursprünglich eine exegetische Methode zur literarischen Gattungsbestimmung von Texten) entlehnt ist und die ursächlichen Ereignisse zu verstehen versucht, die einer Aussage, Nachricht, oder in der Tat jeder menschlichen Kommunikation zugrunde liegen. In der medizinischen Eruierung der Krankheitsursachen wurde dafür der Begriff Anamnese geprägt, eine Erörterung der Krankheitsgeschichte, die für jeden verantwortungsbewussten Arzt vor jeder Diagnose zu stehen kommt.

Indem wir uns in diesem Artikel mit der Thematik des Lebenssitzes biblischer Aussagen beschäftigen wollen, betreiben wir quasi kulturelle, geschichtliche und personenbezogene Anamnese, um mit deren Hilfe weiterführende Diagnosemöglichkeiten zu eröffnen in der Frage nach dem, was zu den jeweiligen biblischen Aussagen geführt hat bzw. was deren eigentlich Motivatoren waren. Wir versuchen uns dabei bewusst zu machen, dass jede menschliche Aussage – und das schließt Gottesoffenbarungen ein, da auch sie nur in Form menschlicher Aussagen zutage treten – ihren spezifischen Sitz im Leben hat, d.h. also nicht losgelöst betrachtet werden kann von den mancherlei Zu- und Umständen, unter die sie fällt und in denen sie sich u.U. sogar (weiter)entwickelte.

Ursprünglich bezog sich der „Sitz im Leben“ einer Sache auf die gattungsmäßige Einbettung urchristlicher Literatur, so wie die sog. Formgeschichte sie analysierte. Die wegweisenden Arbeiten der ursprünglich formgeschichtlichen Analyse erschienen in den Jahren 1919 – 1921 und verbinden sich vor allem mit den Namen von K.L. Schmidt, M. Dibelius und R. Bultmann. Dabei geht Martin Dibelius bei seiner formgeschichtlichen Untersuchung im weitesten Sinne konstruktiv vor, „indem er auf der Grundlage seines Bildes von der urchristlichen Gemeinde und ihren Bedürfnissen die Geschichte der synoptischen Überlieferung rekonstruiert. Ausgangspunkt und Urgrund der Evangelienüberlieferung ist danach die urchristliche Predigt, aus der die übrigen Formen anzuleiten sind: Paradigma, Novelle, Legende, Leidensgeschichte, und Paränese.“ (Udo Schnelle, Einführung in die Neutestamentliche Exegese, S. 107)

In der weiteren Entwicklung der formgeschichtlichen Untersuchungen, u.a. durch Klaus Berger, fanden immer mehr linguistische Erkenntnisse Eingang in das Repertoire der formgeschichtlichen Analyseparameter, so dass sich der Sitz im Leben eines Textes nicht mehr alleine auf die gattungsorientierte Einbettung in eine bestimmte Literatur bezog, sondern nun allgemeiner und weitreichender die Ursächlichkeit seiner Existenz ebenso wie den situativen Kontext, in den sie eingebettet ist und ohne den sie keine Aussagekraft besitzt, umfasst. Er ist nun einer der zentralen Ausgangspunkte für die Entwicklung der formgeschichtlichen Methode.

Somit „...erlaubt diese nun eine Unterscheidung von Tradition und Redaktion innerhalb der Exegetik vor allem der synoptischen Evangelien. In ihrer Ausdeutungsfähigkeit geht die neuere Formgeschichte damit über die bloße Beschreibung einzelner Überlieferungsstücke und deren Zuordnung zu bestimmten Gattungen insofern hinaus, als ein Zusammenhang zwischen den untersuchten Formen und Gattungen und den typischen Lebensäußerungen und Bedürfnissen der sie produzierenden und tradierenden urchristlichen Gemeinden angenommen werden darf („Sitz im Leben“), so daß sich in der Geschichte der Formen und Gattungen die Geschichte der Gemeinden niederschlägt. [...] Diese klassische formgeschichtliche Fragestellung hat sich in der Exegese der Evangelien bewährt (vgl. Päpstl. Bibelkommission: Instructio de historica Evangeliorum veritate 8 vom 21.April 1964) und ist auch auf die anderen neutestamentlichen bzw. frühchristlichen Schriften übertragen worden, sofern sie sich auf mündliche Tradition (in kerygmat. Formeln, Bekenntnissätzen, Christushymnen, paränet. Traditionen etc.) beziehen.

Während in der 1. Phase der formgeschichtlichen Arbeit v.a. ihre weltanschaulichen Voraussetzungen bzw. die überlieferungsgeschichtliche Skepsis R. Bultmanns kritisiert wurden, wird neuerlich unter dem Einfluß linguistischer Forschungen das vorausgesetzte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit problematisiert (E. Güttgemanns) und von da aus eine die literarische Formen des NT einbeziehende Revision und Erweiterung des klass. formgeschichtlichen Ansatzes unternommen (K. Berger).
“ (Lexikon für Theologie und Kirche, Band 3, Formgeschichte)

Nach Klaus Berger kommt es daher primär „...nicht darauf an, nach dem Ausgangspunkt einer Überlieferung zu fragen und dann die hypothetisch rekonstruierte ältere Textfassung zu klassifizieren; vielmehr müsse die Form des jetzt vorliegenden Textes erklärt werden. [...] Daher sei der zu undifferenzierte gebrauchte Begriff der Formgeschichte zu präzisieren: Formgeschichte untersuche die Formen, ihre Funktion und ihre Geschichte als Gattungen; davon zu unterscheiden sei die Überlieferungsgeschichte, die die Stoffe in ihrer Tradierung im frühen Christentum und davor untersuche, und schließlich frage die Kompositionskritik nach der Gruppierung der Stoffe in den Evangelien und Briefen. [...] Allgemein kann man sagen: Die formgeschichtliche Methode fragt danach, welche Geschichte ein Überlieferungsstück (Erzählung, Gleichnis, usw.) durchlaufen hat vom mutmaßlichen Entstehungsort bis zur jetzt vorliegenden textlichen Endgestalt.“ (Hans Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum neuen Testament, 13. Auflage, S. 89)

Der Sitz im Leben, so wie er sich mit der Weiterführung der formgeschichtlichen Methode mitentwickelte, fragt daher vor allem nach dem situativen Kontext ebenso wie nach der Intention des Aussagenden. Dabei sind folgende Fragestellungen wichtig: Wer ist es, der redet? Wer sind die Zuhörer? Welche Ursache hat die Rede? Welche Stimmung beherrscht die Situation? Welche Wirkung wird mit der Rede angestrebt? Ziel dieser Fragestellungen nach dem Sitz im Leben ist somit die Erhellung der situativ-kontextualen Gegebenheiten der Textentstehung.

Gerade die hermeneutische Kategorie der Wirkung, welche eine der zentralen Kräfte dessen ist, was den Sitz im Leben einer Aussage oder eines Textes ausmacht, ermöglicht es, „...bloßen Historismus ebenso zu vermeiden wie das dogmatische Festhalten an einer übergeschichtlichen und damit ungeschichtlichen Sache. Unsere Verbindung zur Schrift beruht weder auf der Identität der zeitlosen Sache noch ist sie ganz aufgehoben. Sie besteht in der Wirkung. Wirkung ist der ekklesiologisch vermittelte Anspruch Jesu, ist sozial ermöglichte Evidenzerfahrung. Wirkung ist der Impuls, der durch die Texte hindurch mit dem Anfang des Christentums vermittelt. Wirkung zeigt sich am Ende darin, daß sich Menschen immer wieder im Namen Jesu versammeln.

Wenn die Realität des Christentums in der Wirkung besteht, die der in den Texten aufgehobene Anspruch Jesu je haben konnte und heute haben kann, dann muß diese Wirkung von den Texten selbst ausgehen. [...] Form und Inhalt sind nicht trennbar, denn die biblischen Texte sind nicht ohne Grund gerade so und nicht anders formuliert. Es geht weder um eine zeitlose noch um eine in den Texten verborgene Wahrheit, die in den Texten nur zur Erscheinung käme, sondern um den Vollgehalt einer konkreten, geschichtlichen Anschauung. [...] Der alte Text ist vor allem deshalb nicht auf eine ‚Botschaft’ außerhalb seiner reduzierbar, weil er Bestandteil eines einmaligen (und daher nur so und nicht anders gestaltbaren und gestalteten) geschichtlichen Vorgangs am Anfang des Christentum ist.
“ (Klaus Berger, Exegese des Neuen Testaments, S. 245f.)

Gegenwartsorientierte Relevanz


Nirgendwo wird mehr verstoßen gegen diese Grundvoraussetzung sinntragender wie wahrheitsorientierter Hermeneutik (bzw. in der journalistischen Textanalyse) als gerade im heutigen multimedialen Zeitalter der sich gegenseitig verdrängenden Sensationen und deren effekthaschender Berichterstattung. Bei den allermeisten Menschen fallen diese Verstöße schon gar nicht mehr auf. Damit einher geht der Verlust der Sensibilisierung dessen, was den Sitz im Leben einer Sache ausmacht, was ihre kulturelle, personale, situative und zeitgebundene Mitte ist, und welche Voraussetzungen und Folgen sich aus einer Nichtbeachtung dieser Parameter ergeben. Die Bibel ernst nehmen ist eine Forderung, die auch und gerade diesen jeweiligen Sitz im Leben ihrer einzelnen Aussagen oder Nachrichten betrifft.

Gerade in der heutigen schnelllebigen Zeit, welche ehrliche Ursachenforschung und damit den Sitz im Leben von Aussagen kaum mehr zulässt, ist der Hinweis auf die Übel, welche sich durch diesen Mangel an Zeitnahme und Wahrheitsbereitschaft ergeben, mehr als notwendig. Sieht man sich die Nachrichten und die Reportagen in Wort und Bild heute näher an, lässt sich nahezu kein fundiertes Recherchieren nach den Zu- und Umständen einer getätigten Aussage oder Handlungsweise mehr feststellen. Dafür werden Bilder an geeignete Stellen plaziert, die mehr als jede Falschaussage den Leser bewusst in die gewünschte Richtung dessen führen, dem es nicht um Wahrheits- und Erkenntnisgewinn, sondern nur mehr um eigene Interessen und Profite geht.

Wie nicht überschätzbar groß die Gefahr ist, in diese zeitgeistige Mentalität der vorschnellen Übernahme scheinbar festliegender und nicht mehr hinterfragenswürdiger Aussagen oder Prozesse zu verfallen, zeigt der Lapsus eines ansonsten überaus wohlbedachten und scharfsinnigen Autors und Kommentators: In seiner Regensburger Vorlesung hatte Papst Benedikt XVI. im Zusammenhang mit der von ihm für absolut notwendig erachteten Koalition von Glauben und Vernunft für den Dialog der Religionen den byzantinischen Kaiser Manuel II zitiert, der seinem muslimischen Gesprächspartner die Frage stellte: „»Zeig mir doch was Mohammed Neues gebracht hat, und du wirst nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.« Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. »Gott hat keinen Gefallen am Blut und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.«“ (Papst Benedikt XVI., Glaube und Vernunft – Die Regensburger Vorlesung, S. 15f.)

Diese scheinbare Schroffheit, mit der der byzantinische Kaiser hier seinem Dialogpartner gegenüber auftritt, hätte bei ihrer Übertragung für ein unter den situativen Bedingungen des 21. Jahrhunderts dozierendes Kirchenoberhaupt betrachtet werden müssen vor dem geschichtlichen Hintergrund – dem wirklichen Sitz im Leben – und damit den Entstehungsbedingungen dieser Aussage. Denn schon die Inbezugnahme zu diesem Hintergrund hätte verhindern geholfen, dass diese Aussage, selbst als unbedenklich scheinendes Zitat, so kommentarlos Verwendung gefunden hätte.

Ohne das Hintergrundwissen und damit den Sitz im Leben dieser Aussage, nämlich dass Kaiser Manuel II unter allergrößtem Druck stand, sich einer damals arrogant und rechthaberisch auftretenden Religion beugen zu müssen, ist eine unkommentierte Übernahme bestenfalls irreführend. Der christliche Kaiser stand im Endkampf gegen die Truppen des Sultans (die muslimischen Türken) und hatte vergeblich auf westliche Hilfe gehofft. Dies hatte ihn, vor dem Hintergrund des drohenden christlichen Kultur- und damit letztlich auch Werteverlustes, im höchsten Maße frustriert, was seinen Gesprächsstil, bei aller scharfsinnigen Zugewandtheit seinem Gesprächspartner gegenüber, trotzig und polarisierend erscheinen ließ, ganz zu schweigen von den politischen und religiösen Verhältnissen, unter denen seine Aussage stattfand.

Dieser Sitz im Leben seiner Aussage ging, sei es thematisch oder situativ bedingt, in der Vorlesung des Papstes leider etwas unter. Damit aber ging die eigentliche Intention des Papstes mit unter, denn sie musste nun gleichgesetzt werden mit der Intention des byzantinischen Kaisers, was unweigerlich dazu führte, dass aufgebrachte Medienvertreter sofort anti-muslimische Töne in dieser Aussage auszumachen glaubten und für den populistischen Aufschrei, nicht nur in islamistischen Kreisen, sondern in der islamischen und teilweise sogar der christlichen Welt sorgten.

Wie sehr die Herausnahme des Sitzes im Leben gerade von als Tatsachen geschilderten Aussagen den Wahrheitsgehalt jeder Aussage verletzen kann, wissen wir alle aus den rufschädigenden Berichten aber auch Bebilderungen des heutigen Sensationsjournalismus. Jedem einigermaßen objektiv denkenden Menschen wird dabei sofort klar, wie bewusst, willkürlich und manipulierend hier die Wahrheit und damit letztlich Realität einer Sache verbogen wird.

Ebenso bewusst sollte uns allerdings werden, dass die Mechanismen, welche von der Wahrheit entfernen, in jeder Form menschlicher Kommunikation und menschlichen Mitteilungsbedürfnisses wie der Teufel im Detail stecken, so dass sie also nicht erst bewusst und böswillig hineingetragen werden müssen. In der Tat gibt es kaum ein Phänomen, das sich besser manipulieren und manipulativ einsetzen ließe, als die menschliche Sprache, deren Ambivalenz und Mehrdeutigkeit in bestimmten Fällen geradezu zum Missbrauch bzw. zur Missinterpretation herausfordern.

Wer sich mit der Thematik der menschlichen Kommunikation und ihrer Folgen befasst, wird bald inne werden, dass durch die scheinbar harmlose Nichtbeachtung des Sitzes im Leben einer Sache oder Aussage mehr Unrecht in die Welt gebracht wurde als durch alle Kriege und ähnliche Auseinandersetzungen zusammen. Sprache war und ist immer Deutungsmedium und muss sowohl vom Schöpfer als auch vom Rezipienten entsprechend mit kritischer Vorsicht und gedanklicher Umsicht verwendet werden. Wenigstens anhand der geschichtlichen Erfahrung sollte dieser Gefahr endlich richtig begegnet werden.

Geschichtliche Relevanz


So brauchen wir auch nur ein wenig zurückzugehen in der Geschichte des Christentums, um auf der Suche nach aufschlussreichen Beispielen sofort fündig zu werden. Die Menschheits- wie die Religionsgeschichte ist voll von Beispielen, wie oft der Sitz im Leben von Aussagen, Zitaten, Lehren usw. – bewusst oder unbewusst – unter den Teppich informationeller Ignoranz oder interessenbehaftetem Opportunismus gekehrt. Meistens geschah dies zugunsten persönlicher oder systemisch religiöser Machtausübung, was nachfolgend dann als angeblich geschichtliches Faktum zu zahllosen Irrtümern geführt hat. Leider können wir im Rahmen eines Webartikels nur ganz kurz auf ein Beispiel eingehen.

Die dem Reformator Martin Luther zugeschriebene und als exklusives Gegen-Dogma interpretierte Aussage des „Sola Scriptura“, einer scheinbaren Behauptung zugunsten eines wörtlich zu verstehenden Schriftendiktats, das richtig nur vor dem Hintergrund der damaligen kirchlichgeschichtlichen Ereignisse und Erklärungen verstanden werden kann, wird in vielen kirchlichen Kreisen bis heute missverstanden.

„Sola Scriptura“ – allein die Schrift, war nämlich nur die trotzige Antwort Martin Luthers, die er und im Gefolge auch andere Reformatoren den Vertretern einer selbstherrlich gewordenen Kirche entgegengeschleudert hatten. Es war eine Reaktion auf Missstände, welche die Heftigkeit dieser Reaktion bestimmten, aber ohne vorausgegangene Aktion nicht verständlich sein konnte bzw. offen war für zahllose Missinterpretationen. Nicht um eine wie auch immer zu verstehende Wörtlichnahme der Bibel ging es diesen Reformatoren, auch nicht um eine biblische Interpretation im Sinne eines Polizeiberichts oder einer journalistischen Reportage, sondern um einen Gegenpol zur machtwillkürlichen Auslegung und Erweiterung der biblischen Schriften seitens der kath. Bischöfe bzw. des Papstes (weshalb gerade die NAK den Sitz im Leben des „sola scriptura“ beachten und sich zu Herzen nehmen sollte).

Luther selber bewertet die Bedeutung und den Sinn der Schriften äußerst unterschiedlich. Beispielsweise die Offenbarung des Johannes war ihm äußerst suspekt und er hätte sie am liebsten aus dem Schriftenkanon entfernt. Ebensowenig ging es ihm um die Frage der Interpretation der Bibel, sondern vielmehr um deren Ergänzung durch die Tradition und deren im Laufe der Jahrhunderte gewachsenen Wildwuchs an päpstlichen Zusatzlehren.

Sehr wohl bewusst hingegen war sich Martin Luther hinsichtlich der Notwendigkeit des zeit- und kulturgerechten hermeneutischen Zugangs (mit den Mitteln, die seiner Zeit zur Verfügung standen...) – nicht um durch Bibellektüre selig, sondern um vor Fehlschlüssen bewahrt zu werden, welche einem unbedarften Bibelleser durchaus unterlaufen können, wie zahlreiche biblizistische und evangelikale Gemeinschaften gerade im reformierten Bereich erkennen lassen. So ermahnte er u.a. seine Gemeinde zu Wittenberg: „Euch meine Pfarrkinder ... vermane ich ... wollet diesen schatz erkennen, Got unnd seinem auszerlesnen werckzeug, für die (Deutsche) Bibel dancken ... unnd darneben mit ... warhafftigem ernst die auszleger hoeren, die euch Gott durch richtige wahl und beruff zugeschickt.“ (Ernst Thiele, Luthers Sprichwörtersammlung 453, S. 396)

Nicht hermeneutische Problemstellungen waren also Ursache für dieses „Sola Scripture“ gewesen, geschweige denn historisch-kritische Bibelforschung, ein Forschungszweig, dessen Möglichkeiten sich Martin Luther nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können, sondern die Manipulation der Heiligen Schriften durch die Kath. Kirche. Erst wer diese damaligen Manipulationen kennt und versteht, wer also um ihre Hintergründe weiß und ihre Auswirkungen erlebt hat, kann das „Sola Scriptura“ so verstehen, wie Martin Luther es gemeint hat. Dies wird in den zahllosen seiner Anschuldigungen gegen seine – die katholische – Kirche sehr deutlich, beispielsweise:

Was Gott innerlich ordnet, als den Glauben, das gilt ihnen nichts. Sie fahren zu und nötigen alle äußerlichen Worte und die Schrift, die auf den innerlichen Glauben dringen, auf eine äußerliche neue Weise, den alten Menschen zu töten und erdichten allhier Begriffe ... und des Gaukelwerks mehr, da nicht ein einziger Buchstabe davon in der Schrift steht ..., das aus der Erkenntnis Christi nichts anderes macht denn ein menschlich Werk.“ (Martin Luther, Predigtschriften 33/4)

Auch die Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers diente nicht einer Ablehnung Gottes in staatlichen Angelegenheiten, so wie dies gerade aus dem Lager der Reformierten für die Europa-Verfassung vorgesehen ist, sondern ist als Antwort auf die allmächtige Herrschaft und Unterdrückung der kath. Kirche zu verstehen – dies ist ihr realer und damit legitimer Sitz im Leben.

Biblische Relevanz


Doch kommen wir zu unserem eigentlichen Betrachtungsobjekt, der Bibel selber. Mit Blick auf den Umfang exegetischer Analysen (20-30 Seiten zu einer einzigen Perikope sind keine Seltenheit) – von denen ein Aspekt die genannte formgeschichtliche Analyse darstellt – können wir das Problem sicherlich nur streifen, da sich Artikel für ein Webmagazin nicht für komplexe exegetische Problembeschreibungen eignen. Dafür gibt es außerdem jede Menge wissenschaftlicher Kommentarwerke.

Bevor wir uns einem nicht zufällig gewählten Beispiel i zuwenden, welches die Notwendigkeit der Eruierung und Beibehaltung des Sitzes im Leben biblischer Aussagen verdeutlichen soll, sei noch ein kurzer Hinweis auf die Eingangs erwähnte Sonnenweib-Problematik erlaubt, ein aktuelles exegetisches Problem der NAK, die sich wieder einmal mit der kircheneigenen Deutung eschatologischer Offenbarungsaspekte zu beschäftigen und dabei eben diesen der Sitz im Leben der johanneischen Offenbarung erneut zu übersehen scheint.

Dieser ist vorab und grundsätzlich die judenchristliche Umwelt, umgeben vom feindlichen römischen Reich, auf das sich diese, von den meisten Exegeten als Widerstandsliteratur bezeichnete, Apokalypse des Johannes bezieht. Dies schließt, um es ganz kurz zu machen, christologisch-ekklesiale Deutungen nicht völlig aus, allein die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Deutung auf der Basis und orientiert an jüdischer Denktradition und Religionsvorstellung ist ungleich sinnfälliger und überzeugender, denn das mittlerweile in alle Welt versprengte Judenchristentum ist der Adressat dieser Literatur. Nur sie konnten seine Bilder wirklich verstehen, da deren Sitz im Leben jüdischen Denkens zuhause war und damit bereits nicht einmal Teil des heidenchristlichen Denkens sein konnte. Dies nur als kurze Anmerkung zu einem neuapostolischen Deutungsversuch, der aus genau jene Gründen scheitern muss, die wir hier zu eruieren trachten.

Als kurzen Ausschnitt aus einem kaum weniger interessanten Beispiel für den Sitz im Leben eines Textes wenden wir uns nun dem apostolischen Legitimationsanspruch des Paulus zu, den er im 2. Korintherbrief entwickelt. Folgen wir betreff der ersten Verse den Ausführung des Exegeten Klaus Berger, der die eigentliche Intention dieses Beispiels anhand seines Sitzes im Leben herauszuarbeiten versucht. Im Anschluss daran und zur besseren Verständlichkeit hinsichtlich der Übertragung für die heutige Zeit einige weiterführende Gedanken von mir:

Bereits in 2. Kor 1,12-14 geht es um ein für die Frage nach der Legitimität des Apostels zentrales Thema. Nach einem für Paulus typischen Denkansatz [der zuvor mittels literar- und textkritischer Analyse ermittelt werden musste] gibt es für ihn nur zwei Dinge, derer er sich rühmen kann: Gott und seine Gemeinde. Auf diese beiden Pole verlagert Paulus, was die Gegner nach seiner Auffassung für ihre eigene Person suchen. Die gegnerischen Apostel rühmen sich dem Fleische nach eigener Vorzüge; sie zwingen Paulus ebenfalls dieses Sich-Rühmen auf, aber Paulus bezeichnet dieses als Torheit. Der Apostel dagegen rühmt sich seiner Schwachheit.

Seine menschliche Person und Aktivität tritt nicht nur völlig hinter seinem Apostolat zurück, sondern offenbart in ihrem Dahinsterben und Leiden, daß die Herrlichkeit und das Leben, die durch den Dienst des Apostels gewirkt werden, nicht von ihm selber stammen können. So wird dafür Raum geschaffen, daß der Apostel sich dessen rühmt, was Gott an ihm und an der Gemeinde gewirkt hat. Aus diesem Rühmen bezieht Paulus die Argumente, mit denen er versucht, positiv sein Apostelamt zu legitimieren. Diese Konzeption wird bereits in 1,12—14 deutlich:

Das neue Sich-Rühmen beruht auf der Gnade Gottes, die Paulus zum Apostel in seiner Gemeinde und diese zu seiner Gemeinde gemacht, also das Verhältnis zwischen diesen beiden begründet hat. Der Ruhm vor Gott am Tag des Gerichtes ist entscheidend (V. 14). Paulus ist stolz auf seine Gemeinde, nicht auf sich selbst, weil sie durch ihn, durch seine von Christus empfangene ,Trostung’ gerettet wurde. Die Gemeinde dart ebenfalls nicht stolz auf sich, sondern muß ihren Ruhm auf den Apostel beziehen, da sie durch ihn gerettet wurde. So kann Paulus in 3,1 sagen, die Gemeinde sei sein Empfehlungsbrief: Das Problem der Apostellegitimation ist von Paulus verschoben worden: Nicht auf menschliche Empfehlungsbriefe hin kann der Apostolat bestätigt werden, und keineswegs muß der Apostel auf diese Weise seine Legitimation sich bescheinigen lassen, sondern das Verhältnis der Gemeinde zu Gott in Christus, das heißt also: daß sie überhaupt ais Gemeinde existiert, legitimiert ihren Gründer. Dadurch wird das Verhältnis wiederum ein wechselseitiges: Die Gemeinde soll nicht so tun, als könne sie nachtraglich den legitimieren, von dessen Legitimität sie doch selbst abhängt, für dessen Legitimität sie durch ihr Bestehen zeugt. Mit der Legitimität des Apostels steht auch die der Gemeinde auf dem Spiel. In 3,3 wird diese unauflösliche Verkettung beider Legitimitätsfragen dahin durchbrochen and darin verankert, daß ja nicht die Autorität des Apostels durch die Gemeinde auf diese Weise empfohlen wird, sondern durch deren Christsein Christus selbst. So erreicht Paulus die eigene Legitimation durch die vollständige Einordnung seiner selbst in den Dienst Christi. Dabei handelt es sich nicht um moralische Bescheidenheit, sondern das ,Verschwinden’ seiner Person und der Verzicht auf Selbstruhm sind christologisch and sakramental begründet.
“ — (Auszug aus: Klaus Berger, Exegese des Neuen Testaments, S.117ff.)

Vergegenwärtigen wir uns also, zum besseren Verständnis des Gesagten, kurz die Situation: Bei seinem zweiten Besuch in Korinth wurde Paulus von einem Christen hart angegriffen und beleidigt, ohne dass sich die Korinther für seine Verteidigung eingesetzt hätten. Unter diesem Seelenschmerz verließ Paulus Korinth und kehrte nicht wie versprochen zurück. Der nicht mehr erhaltene Tränenbrief ist Ausdruck seines Schmerzes, seiner Enttäuschung, aber auch seiner Liebe und Hoffnung. Als er von Titus, der den Brief überbrachte, hörte, daß die Korinther ihr Verhalten bereuten, schrieb er den 2. Korintherbrief, in dem er die Versöhnung zwischen sich und der Gemeinde in Korinth bestätigt, sich aber gleichzeitig nachdrücklich gegen einige Vorwürfe zur Wehr setzt.

Deutlich sehen wir nun bereits zu Beginn des Briefes das Verschränktsein der zeit- wie situationsbedingten Rede des Apostels mit dem Anlass und der Zielgruppe, an die sie gerichtet ist. Es ist eine Verteidigungsrede ähnlich der Sola Scriptura-Diktion Martin Luthers, die also unter ähnlichen Gesetzmäßigkeiten emotionaler Trotz- und Verteidigungsmechanismen (Übertreibung, Personenbezogenheit, Situationsabhängigkeit, partikulare Zielgerichtetheit, stärker ausgeprägter Subjektivismus, u.U. Interessenbehaftetheit, Detailfragen anstelle des Ganzen, usw.) zu sehen sein wird wie Luthers Verteidigungsreden. Entblößt man sie diesem ihrem spezifischen Sitz im Leben, wird sie vieldeutig und verliert damit ihre ursprüngliche und eigentliche Aussageintention.

Das zeitliche wie situative Spezifikum dieser Legitimationsrede ist nämlich jenes, dass Paulus weder über eine schriftliche oder gar lehramtliche Legitimation verfügt, noch auf eine innergemeindliche Zeugenschaft, wie dies seine Gegner offenbar für sich in Anspruch nehmen oder aus anderen Gründen zu fordern scheinen, bauen kann. Aus diesem situativen Rahmen heraus lassen sich verständlicherweise keine Einzelaspekte dieser Legitimationsrede dekontextualisiert verallgemeinernd in den Rahmen des Hier und Heute übernehmen, z.B. mit dem Hinweis auf eine einzig mögliche oder singulär notwendige Apostellegitimation. Genau dann nämlich würde man den Sitz im Leben dieser Rede verlassen und damit gleichzeitig einen völlig neuen Legitimationscharakter und damit u.U. sogar eine neue Lehre kreieren.

Andererseits kann und darf aber auch der hier beschriebene Versuch einer personenbezogenen apostolischen Legitimation nicht als für heute nutzlos von der Hand gewiesen werden, sondern er ist im Gegenteil sicherlich Teil jeder apostolischen Legitimation, ist diese doch immer auch Spiegelbild dessen, in welcher Autorität der jeweilige Apostel lehrt. Sie ist damit quasi notwendige, aber nicht automatisch auch schon hinreichende Legitimationsbegründung für das Apostolat Christi. Auch wenn wir aus diesem Grunde wohl keinen analogen Umkehrschluss ziehen dürfen, können wir doch mit Klaus Berger sagen: Wo das Christsein der Gemeinde in Christus zum untrüglichen Lebenszeichen einer Gemeinschaft wird, muss den Lehrern dieser Gemeinde zumindest eine christliche Legitimität zugesprochen werden dürfen.

Umgekehrt, wo nicht Christuszentriertheit einer Gemeinde das Merkmal des Einzelnen wie das der Gemeinschaft sind, kann nicht von apostolischen Lehrern gesprochen, sondern muss im Gegenteil mit Paulus die Frage aufgeworfen werden, ob sich diese Lehrer denn überhaupt ‚ihrer eigenen Schwachheit und Unfähigkeit’ bewusst sind, oder ob sie sich nicht vielmehr ‚dem Fleische nach ihrer eigenen Vorzüge rühmen’. Dies gilt im weiteren dann nicht nur für eine Gemeinde, sondern letztlich auch für die ganze Kirche. Wichtig ist dabei aber immer im Auge zu behalten, dass der sprachliche Erweis von Legitimität im frühen Christentum, der für die damalige theologische Entwicklung von extremer Relevanz war, auf sehr unterschiedlichen Ebenen vollzogen wird, wovon eine eben der Sitz im Leben der jeweiligen legitimitätseinfordernden Aussage ist.

Ein weiteres Legitimationskriterium für das Apostololat Christi ergibt sich aus diesem Zusammenhang, nämlich die gedankliche und wesensmäßige Nähe zum Lehr- und Lebensursprung in Jesus Christus. Dies lässt weitere Ableitungen hinsichtlich der genannten Legitimationsmerkmale zu, denn so wie Christus seine Legitimation ausschließlich von Gott seinem Vater her erlangte, können wahre Apostel Jesu Christi auch ihre Legitimation nur über ihren Sender, nämlich Jesus Christus erlangen. Diese Legitimation aber hört nicht schon beim formalen Christusbekenntnis auf, sondern sucht geradezu ihre Ebenbildlichkeit im Wesenszug Jesu Christi, indem auch sie – die Apostel – nichts aus sich und ihrer Apostolizität tun, sondern ausschließlich aus Christus. Wo dies der Fall ist, entfallen jegliche Hinweise auf Status und Amtsvermögen, da alles Vermögen ein Geschenk Jesu Christi ist.

Dies bedeutet freilich auch, dass jede Parallelität im Sinne einer gleichmachenden Analogisierung von ‚apostolischen’ mit ‚jesuanischen’ Befugnissen oder Lehren nicht über irgendwelche Amtsbefugnisse, sondern nur über die Stärke in Christus gehen kann, die sich in der Frucht der Gemeinde äußert – eine Frucht, die sich nicht primär in quantitativ-numerischen Zahlen äußert oder bemisst, sondern in qualitativ-erkenntnisbezogenen Kriterien des göttlichen Geistes. „So wie mich der Vater sendet, so sende ich euch...“ muss spiegelbildlich weitergeführt werden im Apostolat Jesu Christi, indem immer nur der Sender und nicht der Gesandte Ausgangs- und Mittelpunkt jeglicher Befugnisse oder Anordnungen ist.

Wie wichtig diese Kenntnis des Sitzes im Leben ist, möge nochmals folgender Vergleich verdeutlichen. Die Aussage „Frankfurt ist ein richtiger Moloch geworden“ hat in der Verteidigungsrede eines zu spät gekommenen Arbeitnehmers eine andere Funktion und Bedeutung als in der moralischen Bemerkung eines Städtebauers. Während im einen Fall nämlich die vertrackte Verkehrssituation angesprochen ist, geht es im anderen um die bauliche Situation des deutschen „Klein-Chicago“.

Aus demselben Grund ist die Aussage des Paulus „denn es ist unser Ruhm [...] dass wir in dieser Welt, vor allem euch gegenüber, in der Aufrichtigkeit und Lauterkeit, wie Gott sie schenkt, gehandelt haben, nicht aufgrund menschlicher Weisheit, sondern aufgrund göttlicher Gnade“ (2. Kor 1,12) durch ihren Sitz im Leben (Verteidigungs-/Rechtfertigungsrede) auf der Aussageebene nicht epistemologisch oder gar ekklesiologisch (Stichwort: Laienapostolat/-prediger) als Gegenthese zu menschlicher Vernunft und Erkenntnis zu deuten, sondern christologisch als Einstellung des Apostels Gott und dem verliehenen Auftrag gegenüber – ein gewaltiger Unterschied, wie mir scheinen möchte.

So wie der Sitz im Leben jeglicher Aussage von Jesus immer sein Vater im Himmel war, so kann der Sitz im Leben jeder Aussage eines Apostels immer nur Jesus Christus sein. Desgleichen so wie Jesus Christus seinen Vater und Gott unter den Menschen verklärte, müssen auch wahre Apostel Jesu ihren Meister Jesus Christus unter den Menschen verklären. Jemanden verklären aber setzt nicht in erster Linie Glauben an, sondern eine umfassende Kenntnis über diese betreffende Person voraus, da verklärt werden nur das kann, was wesensmäßig Besitz ergriffen hat.

Das ist es, was – personen- wie situationsgebunden – die Legitimation des Paulus als Apostel vor dem Hintergrund ihres Sitzes im damaligen Leben ausmacht und keine verallgemeinernden Ableitungen aus zeit- oder kulturgebundenen Einzelaussagen, welche an die jeweilige Situation oder eben ausschließlich an die Person des Paulus geknüpft sind, zulässt. Dazu zählt auch der situationsspezifische paulinische Verteidigungsaspekt der vom Ende her gesehenen Legitimation, welche der hauseigene NAK-Apostologe Reinhard Kiefer u.U. hier bei Klaus Berger abgekupfert und, mangels weiterer Legitimationsaspekte, zum ausschließlichen Kriterium neuapostolischer Apostel-Legitimation erkoren hat.

So ihres Sitzes im Leben beraubt lassen sich, wie die Religions- und Konfessionsgeschichte zahlreich beweist, so ziemlich alle biblischen Aussagen für eigene Zwecke missbrauchen. Die Eruierung des Sitzes im Leben der jeweiligen Textstelle ist also erst Voraussetzung dafür, dass im weiteren dann mittels hermeneutischer Werkzeuge die verschieden Aussageebenen (moralische, christologische, theologische usw.) biblischer Texte zutage gefördert werden können – ein Unterfangen, das ohne diese Voraussetzung von vorne herein zum Scheitern verurteilt wäre.

Die Fragen, die sich aus dem Sitz des Lebens dieser paulinischen Legitimation für heute direkt stellen, sind also keine geschichtlichen, sondern christologische. Sie müssen demnach lauten: Was verklärt jeder einzelne Apostel der neuapostolischen Kirche in erster Linie? Ist es Gott den Vater, wie er sich in und durch Jesus Christus offenbarte oder sein Amt und seine Kirche? Ist es die umfassende Vaterliebe, die Gott durch Jesus Christus den Menschen hat kund werden lassen oder ist es eine selektive Liebe, die nur einer bestimmten Klientel gilt und ihrerseits schon Unterscheidungen trifft in liebeswürdig (aufgrund einer scheinbaren Erwählungsgnade etc.) und nicht liebeswürdig (im Sinne dieser Gnadenwillkür)? Ist es die Botschaft vom Heil des anbrechenden Gottesreiches oder jene vom Heil der Kirche und ihrer Funktionsträger? Ist es auf Gott hin orientierte Erlösung oder mittlerschaftsorientiertes Heil? Ist es biblisch exegetisiertes und damit verstandenes oder biblisch gelesenes und geglaubtes Heil in Jesus Christus? Mit anderen Worten: Was ist der Sitz im Leben der neuapostolischen Apostel?

Fazit:


Der Sitz im Leben einer Sache ist, wie wir nun erkennen können, seine Verankerung in der vielschichtig verschränkten Ursächlichkeit der Entstehung bestimmter Aussagen, Texte, Überlieferungen usw. und gleichzeitig die zielorientierte Intention durch die diese erst Bedeutung und Zielgerichtetheit erhalten. Fehlt er, was in der heutigen journalistischen wie persönlichen Berichterstattung leider sehr häufig der Fall ist, verlieren Aussagen ihre Verankerung in der Wahrheit und werden zum Spielball von Meinungen. Dies besser und häufiger zu verhindern sollte unser aller Anliegen sein nicht zuletzt in der durch die diesjährige Pfingstpredigt aufgeworfenen Frage nach dem Anteil an Sympathie, welchen jede Aussage alleine schon um der Mitmenschlichkeit willen als Vertrauensvorschuss in sich zu tragen gewillt sein sollte.

Ausblick auf fortsetzende Artikel


Das nächste Thema, mit dem wir uns zu beschäftigen haben werden und welches geschichtlich wie theologisch untrennbar mit den beiden schon behandelten Themen verbunden ist, ist die Frage nach dem „Zusammenhang von Gottesbildern und Glaubens- wie auch Lehrentwicklungen“ vor dem Hintergrund biblischer Überlieferungen und deren Interpretation.
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i Persönlicher Nachtrag:
Ich hatte ursprünglich nicht beabsichtigt, die Korintherlegitimation des Paulus als Beispiel auszuwählen, um den Sitz im Leben der Schrift und was damit zusammenhängt ein wenig zu verdeutlichen. Dass ich dann die Verteidigungsrede des Paulus wählte und dabei förmlich über diese hier ansatzweise zitierte Kurzexegese von Klaus Berger stolperte, hat einen „seltsamen“ Grund, dessen Ursächlichkeit jeder Leser für sich beantworten möchte:

Ich hatte vor ein paar Tagen einen Traum. In diesem sah ich mich über einem großen See schwebend, evtl. auch die weite Buch eines großen Stromes. In dessen Mitte schwamm eine Gestalt, die mir eine Stimme als Paulus vorstellte. Diese Gestalt schrieh erbärmlich um Hilfe, weil ihr die Kräfte zu erlahmen drohten. In einiger Entfernung schwammen andere Gestalten, die diesem „Paulus“ zu Hilfe eilen wollten, aber anscheinend gegen eine Strömung nur sehr schwer ankamen, eine Strömung, die ihrerseits Paulus immer weiter mit sich zog. Dabei wechselten sich seine Hilfeschreie ab mit Lobpreisungen Gottes, dass dieser ihm auf jeden Fall zur Seite stehen würde und dass die Helfer in ihren Bemühungen nicht nachlassen sollten, da Gott ihm, Paulus, die Kraft zum Durchhalten schenken würde bis die Retter ihn erreicht hätten.

Kurzer Rede langer Sinn: Der Traum endete damit, dass Paulus in einem langen Todeskampf ganz jämmerlich ertrank und ich wachte auf. Ich war zutiefst erschüttert, aber auch wütend und frustriert gleichermaßen und schimpfte auf diesen unverschämten Gott, der die Gutgläubigkeit seines Geschöpfes so schamlos ausgenützt und nicht eingegriffen hatte, um es zu retten.

Als ich dann im Zusammenhang mit diesem Artikel das besagte Korintherkapitel las, schien es, als wollte mir eine andere Erklärung dämmern: Dieser Paulus musste offensichtlich, ob seines – aus seiner damaligen Sicht – oftmals mäßigen Erfolges (zumindest in Korinth), verzweifelt sein, verzweifelt wohl auch über die kurze Lebenszeit, die ihm geschenkt ward und in der er doch so viel mehr zu erreichen gehofft hatte. Vielleicht schien es ihm, als wäre alles vergeblich gewesen. Aber die Retter, die, die ihm geglaubt hatten, würden sein Werk fortführen. Auch wenn sie sein Ableben und damit das vielleicht viel zu frühe Ende seiner Missionstätigkeit nicht hatten verhindern können, sein Werk und seine Taten würden in ihnen fortleben. Nichts war umsonst, auch wenn es – aus der Sitz-des-Lebens-Perspektive – so furchtbar umsonst schien....
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Copyright (auch hinsichtlich der dazugehörigen Werke, aus denen zitiert wurde), Rudolf Stiegelmeyr 2000-2007
Dieser Artikel ist auszugsweise entnommen und adaptiert aus meinem zukünftigen Werk „Die Bibel ernst nehmen - Warum laienhaft blinder Bibelglaube so fundamentalistisch gefährlich ist“, sowie aus meinen Bibelschulungen




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