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Sie befinden sich hier: > WDR.de > Panorama > Opfer-Therapeut: "Sicherheitsgefühl massiv erschüttert"


"Grundlegendes Sicherheitsgefühl ist weg"

Psychotherapeut im Interview zum Amoklauf in Emsdetten

Schlafstörungen, Schwindelgefühle oder eigene Aggressionen - Christian Lüdke kennt die Reaktionen von Opfern nach Amokläufen, Überfällen oder Unglücken. Der Psychotherapeut schildert, wie Fachleute helfen und was Eltern tun können.

Christian Lüdke; Rechte: privatBild vergrößern

Therapeut Lüdke

Lüdke ist Therapeut für Kinder und Jugendliche. Der Kölner hat sich auf die Betreuung von Opfern und Helfern nach Unfällen, Überfällen, Geiselnahmen und Katastrophen spezialisiert. Lüdke kümmert sich unter anderem um Opfer des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002.

WDR.de: Beim Amoklauf in Emsdetten sind den bisherigen Informationen zufolge einige Schüler verletzt worden. Die meisten aber sind wohl mit dem Schrecken davongekommen, viele haben den Täter wahrscheinlich gar nicht zu Gesicht bekommen. Worauf kommt es jetzt bei der psychologischen Betreuung der Opfer als erstes an?

Lüdke: Die Kinder und Jugendlichen stehen in der Regel unter Schock. Auch diejenigen, die keinen direkten Kontakt zum Täter hatten, sind in ihrem grundlegenden Sicherheitsgefühl ganz massiv erschüttert. Das Wichtigste für die Schüler ist, dass sie erst einmal ganz viel Ruhe und Abstand haben und auch morgen nicht in der Schule sind. Dann müssen sie umfassend über die Hintergründe dessen, was passiert ist, aufgeklärt werden. Denn Informationen geben Sicherheit.

Außerdem müssen Psychologen und Eltern darauf achten, ob es in den nächsten Tagen zu Verhaltensauffälligkeiten kommt. Denn so etwas könnte möglicherweise in sehr schwere Folgestörungen übergehen.

WDR.de: Was für Auffälligkeiten meinen Sie?

Lüdke: Es kann zum Beispiel sein, dass jemand verstummt und in eine Art gefühlsmäßige Vollnarkose fällt, oder dass ein Schüler eigene Aggressionen zeigt. Andere Symptome sind sehr belastende Erinnerungsbilder, bei denen man das Gefühl hat, die Ereignisse immer wieder zu durchleben. Auch der Körper kann reagieren: mit Schlafstörungen, Übelkeit oder Schwindelgefühl.

WDR.de: Das sind äußere Symptome. Welche tiefergehenden Folgen kann es geben?

Lüdke: Viele Betroffene denken, dass sie auch getötet oder verletzt werden können. Und das ist ja auch eine ganz reale Möglichkeit, weil sie den Täter kannten oder in seiner Nähe waren. Das grundlegende Sicherheitsgefühl ist weg. Aus der Vergangenheit weiß man, dass für etwa sieben bis zehn Prozent der Schüler ein erhöhtes Risiko besteht, Monate, unter Umständen sogar Jahre daran zu leiden.

Polizist vor dem Schulgebäude; Rechte: dpaBild vergrößern

Wenn aus der Schule ein Tatort wird

WDR.de: Wovon hängt das ab?

Lüdke: Zum einen davon, wie zufrieden die Schüler mit sich und ihrem Leben sind. Kommen sie aus stabilen Familienverhältnissen? Haben Sie Freunde? Hobbys, denen sie nachgehen? Der zweite Risikofaktor sind Vortraumatisierungen, also wenn Schüler schon einmal belastende Dinge erlebt haben - wie die Trennung der Eltern, Unfälle und Erkrankungen oder den Verlust von geliebten Menschen. Solche Erlebnisse können wieder hochgespült werden und die bisherigen seelischen Bewältigungsstrategien versagen.

WDR.de: Wie finden Sie heraus, wer zur Risikogruppe zählt?

Lüdke: Psychologen können mit bestimmten Tests mit etwa 95-prozentiger Sicherheit sagen, ob die Beteiligten in den nächsten Monaten eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung entwickeln werden. Dabei handelt es sich einfach um Fragebögen, die kurze Zeit nach dem Erlebnis und noch einmal wenige Tage später abfragen, was die Betroffenen erlebt haben: Wie haben sie Angst erlebt? Kamen sie sich wie ein Beteiligter oder wie ein Zuschauer vor?

WDR.de: Bei einem so großen Unglücksfall gibt es viel mehr Betroffene als Psychologen vor Ort. Wie hat man sich eine Erstbetreuung da vorzustellen?

Lüdke: Wir haben 2002 nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium auf diese Weise mehrere hundert Schüler befragt. Das Ausfüllen der Risikofragebögen dauert nur eine Viertelstunde und die Auswertung ist nicht sehr schwierig. Es gibt also schon innerhalb kurzer Zeit zuverlässige Ergebnisse.

WDR.de: Und das reicht im ersten Moment zur Betreuung?

Lüdke: Natürlich ist es auch wichtig, dass die Schüler und ihre Eltern aufgeklärt werden, dass ein solches Ereignisse sehr ungewöhnliche Reaktionen nach sich zieht, wie ich sie vorhin beschrieben habe. Da ist es sehr wichtig, den Schülern zu erklären, dass nicht sie es sind, mit denen etwas nicht stimmt. Das, was sie miterleben mussten, ist das Außergewöhnliche. Die Symptome sind Teil eines natürlichen Heilprozesses.

WDR.de: Welche Rolle spielt das Alter der Schüler?

Lüdke: Eine ganz wichtige Rolle: Kinder bis zum Alter von etwa zehn Jahren reagieren anders als Jugendliche und Erwachsene. Sie zeigen eine stark verzögerte traumatische Reaktion: Symptome tauchen bei ihnen erst nach ein paar Tage oder gar Monaten auf. Außerdem kann es sein, dass Kinder das Ereignis im Spiel, im Geschichtenerzählen oder beim Malen nacherleben und versuchen für sich Erklärungen finden. Ältere Kinder reagieren dagegen wie Erwachsene.

WDR.de: Was können Eltern konkret tun?

Lüdke: Eltern sollten vor allem für Sicherheit und Trost sorgen. Kinder brauchen vor allem die drei großen Z: Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit. Man sollte aber nicht permanent über das Erlebte reden - das hilft nicht. Die Eltern sollten die Kinder bewusst ablenken, es sei denn, die Kinder fragen von sich aus nach dem Geschehen. Wenn Eltern aber eine Verhaltensauffälligkeit bemerken, sollten sie mit dem Kinderarzt oder Hausarzt sprechen. Der weiß dann, ob eventuell Experten hinzugezogen werden müssen.

WDR.de: Sie haben auch Betroffene des Amoklaufs in Erfurt betreut. Die Schule dort wurde erst drei Jahre später komplett renoviert wieder eröffnet. Ist das der richtige Weg?

Lüdke: Wenn es viele Tote und Verletzte gegeben hat, ist die Schule keine Schule mehr, sondern zu einem Tatort geworden, an dem man immer wieder an die schrecklichen Ereignisse erinnert wird. Im jetzigen Fall ist es Gott sei Dank abgesehen vom Täter nicht zu Toten gekommen. Trotzdem sollte die Schule ein äußeres Zeichen setzen: Veränderungen, die symbolisieren, dass sie das grundlegende Sicherheitsgefühl der Schüler wiederherstellen möchten.

Das Interview führte Fiete Stegers

Stand: 20.11.2006, 17:03 Uhr


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