Die Befürchtungen vieler Abgeordneter, bei vorgezogenen Neuwahlen von den 41 Millionen wahlberechtigten Türkinnen und Türken wegen der verheerenden Finanz- und Wirtschaftskrise abgestraft zu werden, sollten sich bewahrheiten. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 3. November 2002 scheiterten alle drei Parteien der bisherigen Regierungskoalition unter Ministerpräsident Ecevit an der Zehn-Prozent-Hürde. Damit gehören sie dem neuen Parlament nicht mehr an. Ecevits „Partei der Demokratischen Linken” (DSP), die 1999 mit 22,1 Prozent stärkste Partei geworden war, konnte nach dem vorläufigen Endergebnis diesmal nur 1,2 Prozent der Stimmen gewinnen. Die „Partei der Nationalen Bewegung” (MHP) kam auf 8,3 Prozent, die liberal-konservative „Mutterlandspartei” (ANAP) auf 5,2 Prozent.
Einen überwältigenden Sieg hingegen errangen die gemäßigten Islamisten, die durch die religiös-modernistische „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung” (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) vertreten werden. Die erst ein Jahr zuvor gegründete Partei des früheren Istanbuler Bürgermeisters Recep Tayyıp Erdoğan, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, gewann 34,2 Prozent der Stimmen. Die gemäßigten Islamisten stellen künftig 363 der 550 Abgeordneten und verfügen damit über die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Für die Zwei-Drittel-Mehrheit wären 367 Abgeordnete erforderlich gewesen.
Als einzige andere Partei nahm die „Republikanische Volkspartei” (CHP), die seit 1999 nicht in der Nationalversammlung vertreten war, die Zehn-Prozent-Hürde. Die CHP unter Deniz Baykal erhielt 19,3 Prozent der Stimmen und wird mit 178 Abgeordneten in der Nationalversammlung die Rolle der Opposition übernehmen.
Zum Zeitpunkt der Wahlen stand der Kandidat der AKP für das Amt des Ministerpräsidenten noch nicht fest. Spitzenkandidat Erdoğan, dem wegen „islamistischer Volksverhetzung” das passive Wahlrecht aberkannt worden war, kann nicht für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren. Am Wahlabend versprach Erdoğan, seine Partei wolle für „Arbeit und Brot” sowie ein Ende der Korruption sorgen, und bekräftigte den pro-europäischen Kurs seiner Partei, die sich für eine Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses einsetzen werde.
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