magazin info3/archiv/Mai 2000

Zur neuen Lage in Tschetschenien

Sprießendes Laub, das nervös macht

Von Konstantin Gamsachurdia

Nach der Zerstörung der Hauptstadt Grosny ist der Tschetschenienkrieg in einen blutigen Partisanenkrieg übergegangen, der nach Prognose des Kaukasus-Kenners Konstantin Gamsachurdia Jahre dauern kann.

Kurz nach den Präsidentschaftswahlen in Russland präsentierte die Zeitung Argumentij i Faktij den Wahlsieger Wladimir Putin in Form einer Karikatur: Putin in altgriechischer Manier gepanzert, mit dem Schwert in der einen Hand, in der anderen mit dem abgeschnittenen Kopf eines bärtigen Mannes, dessen Gesicht unzweideutig kaukasische Züge trägt. Aber diese Zeichnung entspricht kaum der Realität. Für den Triumph des frisch erkorenen Präsidenten sind scheinbar alle Voraussetzungen da, nur das Wichtigste fehlt: die Lage an der tschetschenischen Front ist anders, als sie der »russische Perseus« gerne sehen möchte. Schon im Januar dieses Jahres erklärte General Kwaschnin die Operation gegen die »Terroristen« für beendet, der Geheimdienst nahm einen geistesgestörten Einzelgänger, den ehemaligen Feldkommandanten Radujew sogar fest, aber die russischen Streitkräfte fühlen sich in einem auf das Niveau der Steinzeit zurückgebombten Land unsicher wie nie zuvor. Besonders nervös reagieren Soldaten und Offiziere auf das hervorsprießende Laub, denn dieses lässt erwarten, dass die Partisanen von Präsident Maschadow nun effizienter wirken können, unentdeckt von Hubschraubern und Flugzeugen. Bis jetzt kostete jeder Überfall der Partisanen auf russische Stellungen mindestens 50-60 Soldatenleben. Für die Machthaber im Kreml scheinen Menschenleben keinen Wert zu haben, aber dies ist nicht neu: die Vorbilder von Putin, Zar Peter der Große und KGB-Chef Juri Andropow hielten auch nicht besonders viel vom Leben ihrer eigenen Bürger.
Unklar ist auch, wie die Führung der russischen Föderation die Kosten dieses aufwendigen Krieges decken will. Vor den Präsidentschaftswahlen waren in Russland die Öl- und Benzinpreise auf dem internationalen Markt ziemlich gestiegen. Russland, das als einer der größten Erdölexporteure gilt, hat davon profitiert. Putins Regierung konnte sogar die monatelang ausstehenden Löhne auszahlen. Infolgedessen machte sich ein Mythos über die Kompetenz seines Kabinetts und sein »klares« Programm im Bereich der Wirtschaft breit. Nach der anschließend rasch erfolgten Senkung der Erdölpreise klafft nun wieder mehr als eine Milliarde Dollar Defizit im Staatshaushalt.

Alarmierende Berichte

Auch die Visite der UN-Menschenrechtskommisarin Mary Robinson in Inguschetien und in Tschetschenien mündete in ein Desaster für die russischen Behörden. Zuvor kursierten im Westen alarmierende Berichte über die Misshandlungen und Folter in den »Filtrationslagern«. Besonders schlimm soll es in Tschernokosowo gewesen sein. Bevor Frau Robinson in dieses Lager geführt wurde, hatte man die durch Folter zu Krüppeln gemachten Menschen verlegt, die Wände wurden neu gestrichen und das Personal ausgewechselt. Frau Robinson, die darüber anscheinend im Voraus informiert war, gab sich mit dem Besuch in diesem »potjemkinschen Lager« nicht zufrieden und forderte überraschend, noch zwei weitere, für die Öffentlichkeit wenig bekannte Lager im nordossetischen Mosdok sowie im Leninski-Bezirk von Grosny besichtigen zu können. Die Besatzungsbehörden verwehrten der Menschenrechtskommisarin den Zugang. Aber damit bestätigten sie nur den gegen sie gehegten Verdacht grober Verletzungen der Menschenrechte. Die Indizien dafür lieferten auch hunderte Personen, die von Helsinki Human Rights Watch in Inguschetien ausführlich befragt wurden. Sie berichteten von entsetzlichen Gräueltaten: Männer, die vor den Augen ihrer Frauen vergewaltigt wurden, Herausreißen von Finger- und Fußnägeln, Brechen von Gliedmaßen, Erschießungen. Darüber hinaus forderten die Henkersknechte in Tschernokosowo für die Freilassung der Inhaftierten enorme Geldsummen, womit sie sogar jene wegen Geiselnahme und Menschenhandel berüchtigten tschetschenischen Kriminellen übertrafen. Wegen des andauernden Krieges gegen die Zivilbevölkerung hat die Versammlung des Europarates in Straßburg am 24. März 2000 den russischen Abgeordneten ihr Stimmrecht entzogen. Die vollständige Suspendierung Russlands blieb vorerst aus.

Kräfteverhältnisse in Tschetschenien

Der gewählte Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow, hinter dem die große Mehrheit der Tschetschenen steht, reagierte erfreut auf die Resolution des Europarates. Auf die Frage eines Korrespondenten, ob der Ausschluss Russlands aus dem Europarat irgendwelche Auswirkungen auf eventuelle Friedensverhandlungen zwischen Russland und Tschetschenien haben werden, meinte Maschadow: »Sicherlich. Wie der bekannte Bürgerrechtler Sergej Kowaljow gesagt hat, wird in Russland zuerst Hysterie ausbrechen, dann wird man anfangen zu denken und schließlich wird man wahrscheinlich zu der vernünftigen Einsicht gelangen, dass man sich nicht von Europa isolieren sollte. Ich denke, dass Verhandlungen kommen werden.« Am Ende fügte er noch hinzu: »Der Beschluss (des Europarates) nährt die Zuversicht, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die kleinen Völker doch irgendwelche Sicherheitsgarantien und ein Existenzrecht haben werden und Russland kein Recht mehr hat, ungestraft kleinere Völker zu vernichten.« (Interview mit der Deutschen Welle vom 17.4.2000)
Maschadow hat des öfteren seine Verhandlungbereitschaft signalisiert. Nur die andere Seite blieb bis jetzt taub. Der Tschetschenenführer ist sogar zu langen, zermürbenden Friedensgesprächen bereit. Seine allerersten Forderungen hat der Außenminister Ilias Achmadow noch Ende Februar deutlich formuliert: »Die Bombardements auf die Zivilbevölkerung müssen sofort eingestellt werden. Es müssen Korridore eingerichtet werden für den Zutritt der internationalen Organisationen, um die leidenden Menschen mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten zu versorgen. Dem Roten Kreuz muss ermöglicht werden, Schutzzonen und Zelte für die Verwundeten einzurichten, unabhängigen Beobachtern, wie den Vertretern von UNO, Europarat, OSZE und internationalen Menschenrechtsorganisationen ist der Zutritt zu gewähren, um weitere Gräueltaten an der Zivilbevölkerung zu verhindern.« (Ekkehard Maas, Interview mit dem Außenminister Tschetscheniens Ilias Achmadow, Februar 2000 in Berlin) Diese Forderungen sind bis heute nicht erfüllt. Entgegen dem Beschluss des Europarates, in dem sehr deutlich formuliert ist, dass die Kriegshandlungen unverzüglich eingestellt und die Verhandlungen ohne jegliche Vorbedingungen aufgenommen werden müssen, wurden im Süden Tschetscheniens vom russischen Militärkommando weitere Panzerverbände und zusätzliche 3000 Fallschirmjäger entsandt. Es gibt wieder Bombardements und Opfer unter der Zivilbevölkerung. (Radio Liberty vom 22. April) Und dies besonders nach der Rückkehr Putins aus Großbritannien, wo er Premierminister Tony Blair traf.

Islamistische Minderheit

Die um Bassajew gescharten Islamisten, die dort eine Minderheit darstellen, reagierten auf den Beschluss des Europarates kühl. Alles, was im Westen bezüglich Tschetschenien gemacht wird, ist für sie nichts wert. Sie setzen alle ihre Hoffnungen auf die Welt des Islams. Dabei kommt von islamischen Ländern wie Saudi Arabien, Afganistan oder Pakistan kein nennenswerter politischer Sukkurs für sie. Bassajew selber behält weiterhin den selbst erfundenen Titel »Oberster Anführer der Schura der Völkern Tschetscheniens und Dagestans«. Dies ist für den gemäßigten Maschadow eine Provokation ohnegleichen: er ließ verlauten, dass sich nach dem Ende des Krieges Bassajew, der Jordanier Chatab sowie einige Feldkommandanten wegen des Abenteuers in Dagestan vor dem obersten islamischen Gericht verantworten müssten.
Es ist auch interressant zu wissen, welche Richtung des Islam für Maschadow von Bedeutung ist. Der Islam in Tschetschenien war schon immer durch den Sufismus geprägt. Maschadow unterhält enge Beziehung mit der sufistischen Bruderschaft von »Kadiria«, die ihren Sitz in den USA hat. Der Sufismus bildet einen Gegensatz zum orthodox-islamischen Fundamentalismus, der seinen Glauben mit Feuer und Schwert verbreiten möchte. Bei dem kürzlich bekannt gewordenen Skandal um den deutschen Bundesnachrichtendienst, der die Berichte an den russischen Inlandsgeheimdienst FSB geliefert haben soll, wurde betont, man hätte erforschen wollen, welche Kontakte zwischen Tschetschenen und islamischen Fundamentalisten in Afganistan bestünden, von wo aus der berüchtigte Terrorist Usama bin Ladin operiert. In einer im Internet publizierten Erklärung von Maschadow ist diesbezüglich folgendes zu lesen: »Tschetschenien wird Usama bin Ladin niemals Asyl, Zuflucht oder ein Stück Land geben. Ungeachtet dessen, was dies die tschetschenische Nation kosten würde, notfalls sogar einen Krieg.... Wir Tschetschenen haben eine Kultur und eine Lebensweise, die auf unsere Tradition und den islamischen Prinzipien der Toleranz gegründet ist. Es gibt keinen Platz in unserer Kultur für Extremismus und Terrorismus.«
Eine dritte, autonome Kraft, ebenfalls eine Minderheit, ist durch den Mufti (religiöses Oberhaupt der Muslime) Kadirow angeführt, der zur Zeit mit den russischen Besatzungsbehörden kollaboriert. Kadirow rechtfertigt seine Haltung damit, dass er mit allen Mitteln die Genozide an der tschetschenischen Bevölkerung verhindern möchte. Angesichts der grausamen Realität scheint seine Logik nicht aus der Luft gegriffen. Die traurige Bilanz der Ereignisse: seit 1991 ist etwa ein Zehntel des 900 000 Menschen zählenden Tschetschenenvolkes in den kriegerischen Auseinandersetzungen umgekommen, etwa 250 000 sind in verschiedene Länder geflohen. Der schleichende Krieg könnte noch jahrelang dauern. In Russland kann man immer wieder Stimmen hören, die den Genozid an den Tschetschenen als eine akzeptable Lösung der gegenwärtige Krise darstellen. Ob Kadirow mit seinem Kollaborationismus dieses Ziel tatsächlich durchsetzen kann, ist indessen mehr als fragwürdig. Die in Afganistan in den 80er Jahren als sowjetrussische Kollaborateure agierenden Babrak Karmal und Nadschib-Ula blieben nur Marionetten der Besatzer und vermochten dort keinen Frieden zu stiften.