Eine Straße für den Missionar

Sie haben ihm ein Kirchengebäude verweigert, er durfte nicht einmal ein Kreuz aufstellen: Die DDR hat Pfarrer Heinz Bräuer schikaniert, wo sie nur konnte. Doch er blieb stur, improvisierte - und siegte

Von Jörg Niendorf

Nie werden Straßen nach lebenden Persönlichkeiten benannt. Das ist so in deutschen Städten. Nur in Eisenhüttenstadt, da ist das anders. Hier gibt es im ehemaligen Scheunenviertel, in dem jetzt Eigenheime stehen, die Pfarrer-Bräuer-Straße. Und ihr Namenspate lebt. Gerade einmal einen Kilometer entfernt wohnt er in einem alten, etwas windschiefen Pfarrhaus. Idyllisch unter Linden im Ortsteil Fürstenberg, ganz nahe der Oder.

Bald wird Heinz Bräuer neunzig Jahre alt. Schmal ist er geworden in jüngster Zeit, aber immer noch eine beeindruckende Erscheinung: großgewachsen, mit wachem Blick, buschigen Augenbrauen und dichtem, weißen Haar. Ein asketischer Mensch auf einem kargen Altenteil. Auch im hohen Alter auf Zack, verbindlich, geradeaus. Doch prompt erlaubt sich dieser aufrechte Christ eine Riesenprahlerei: "Eine Straße zu Lebzeiten: Das hat, soweit ich weiß, sonst nur dieser Rennfahrer, Michael Schumacher." In seiner rheinischen Heimatstadt. Bräuer kann ein Lächeln nicht unterdrücken, aller sonstigen Bescheidenheit zum Trotz. Eine schöne Bilanz. Dort eine Straße für den Formel-Eins-Star, hier eine für den Missionar. Es ist Teil der späten Genugtuung, die Bräuer erfährt, wenn er zurückschaut.

Dreißig Jahre lang, von 1953 bis 1983, war er Vorkämpfer für die Sache Gottes in Eisenhüttenstadt, der ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden, die ausdrücklich ein Ort ohne Kirchtürme sein sollte. Fast genauso lang verwehrte ihm die DDR-Führung den Bau eines Gotteshauses. Mit immer neuen Schikanen. Letztlich siegte der energische Pastor doch. Eisenhüttenstadt besitzt seit 1981 die Friedenskirche, im fünften Wohnkomplex gelegen. Zwar ohne Turm, aber mit einem zweistöckigen, freistehenden Glockengerüst. Ende Mai will die Gemeinde das 25jährige Bestehen der Kirchweihe feiern. Immerhin: Ihre Glocken hatte sie schon Mitte der Fünfziger. Da durfte Pfarrer Bräuer zumindest eine Baracke aufstellen. Eine Glocke trägt die Inschrift "Geduldig in Trübsal".

Beharrlich maß Bräuer seine Kräfte mit eifrigen Kommunisten. Man könnte an die italienische Satire von Don Camillo und Peppone denken. Doch lustig ging es hier nicht zu. Es standen sich sogar auf beiden Seiten ziemliche Dickschädel gegenüber, glaubt man vielen Beobachtern. Der Pfarrer selbst nennt es "Entschlossenheit".

Sein Peppone, also sein direkter Gegenspieler, war SED-Funktionär, ein Vize des Bürgermeisters. Bald hätten beide ihr Terrain abgesteckt, sagt Bräuer. Von da an begannen ihre Treffen so: "Sie überzeugen mich nicht, ich überzeuge Sie nicht, also können wir gleich zu den Fakten übergehen." Allerdings sprachen die Fakten aus Sicht der SED stets gegen die Kirche. Bräuer wurde hingehalten und konterte auf seine Art: mit Hartnäckigkeit. Das bezeugt auch das lebensgroße Ölporträt in seinem Wohnzimmer. Es zeigt den preußischen Pastor im Talar, kraftvoll zu Amtszeiten. Ein Bildnis mit Wucht. Es beherrscht den Raum, ebenso die heute fragile Gestalt Bräuers, die darunter im Sessel sitzt.

Doch er kann immer noch grimmig die Stimme erheben. Beim Rückblick auf das, was er "da drüben" alles erlebt hat. "Drüben", das war für die Einwohner des Städtchens Fürstenberg immer zweierlei: einerseits der Westen, andererseits die Neustadt. Jenseits des Oder-Spree-Kanals lagen seit 1950 die neuen Wohnblöcke für das aus dem Boden gestampfte Eisenhüttenkombinat. Werk und Wohnungen wurden dem Ort Fürstenberg zugeschlagen. Zuerst hieß die neue Gemeinde EKO-Wohnstadt Fürstenberg, dann Stalinstadt, schließlich Eisenhüttenstadt. Die Distanz der Ortsteile blieb. Noch heute ist "drüben" ein feststehender Begriff. Auch für Heinz Bräuer. Die Arbeit drüben war ja sein Leben. Da war er Missionar. Man darf es so zuspitzen, das lehnt er nicht ab. Nur fügt er diplomatisch hinzu: "Jeder Christ fühlt sich hoffentlich als Missionar."

Um Pastor zu werden, mußte Bräuer Umwege nehmen. Die diktierte ihm sein Vater, ein städtischer Beamter in Fürstenwalde. Erst eine Sparkassenlehre, dann ein Lehramtstudium. Immerhin für Kirchenmusik, so mogelte sich Bräuer in Richtung Theologie. Seit seiner Kindheit, sagt er, sei die seine Berufung gewesen. Ende der dreißiger Jahre studierte er sie endlich in Berlin. Dann sah er das Scheitern der angepaßten "Deutschen Christen" im Nationalsozialismus. Gerade diese Erfahrung wurde sein Hauptantrieb: bloß nie stillhalten.

In Fürstenwalde erlebte er als junger Pfarrer das Chaos der Nachkriegsjahre. Danach begann seine eigentliche Mission. Am 1. Februar 1953 nahm er die neugeschaffene Pfarrstelle am EKO-Werk an. Bräuer fand, wie er später oft sagte, eine "Goldgräberatmosphäre" vor: Die Leute, die herzogen, packten an. Er ebenso. Nur ein Vierteljahr später kam Walter Ulbricht, auch Bräuer hörte ihm im Kulturhaus zu. Ulbricht taufte die Baustelle auf den Namen Stalinstadt und hielt seine "Turmrede". Nur zwei Gebäude sollten demnach einen Turm erhalten, das Rathaus und das Kulturhaus. "Bürgerlich-kapitalistische Verdummungseinrichtungen", wie er die Kirchen nannte, dürften keinen Platz haben in der Plansiedlung für den neuen Menschen. "Damit war die Sache klar", sagt Bräuer. Wie ernst die Sache genommen wurde, erlebten kurz darauf die katholischen Christen. Die Baracke, die sie sich errichtet hatten, ließ die SED in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zerstören.

Tag für Tag zog Bräuer von Fürstenberg aus nach drüben. "Von Haus zu Haus, treppauf, treppab, von Tür zu Tür. Man mußte sich bewähren als Christ." Friedensgemeinde nannten sie sich. "Aber ganze Brigaden sind geschlossen aus der Kirche ausgetreten", sagt Bräuer, "genauso ganze Abiturklassen." Einmal, 1958, organisierte die Partei 1400 Kirchenaustritte auf einen Schlag. Da zählte die Stadt gerade einmal 18 000 Einwohner.

Mühsam blättert der Pastor in einem dicken Papierwälzer, der vor ihm liegt. Darin hat er sämtliche Quellen seiner Amtszeit zusammengetragen und alles minutiös beschrieben. Er findet die Stelle im Buch, an der zwei Fotos die ganze Misere beschreiben. Eins von 1956, da segnet Bräuer mehr als 60 Konfirmanden ein. Das andere Bild von 1969 zeigt den Pastor mit vier Kindern vor der Kirchenbaracke. Entschlossen schreitet er mit wehendem Talar voran, die Konfirmanden stolpern hinterher.

Auch in dieser Zeit hatte Bräuer auf einer "klaren Linie" bestanden. Konfirmanden durften bei ihm nicht gleichzeitig zur staatlichen Jugendweihe gehen, die Vermischung der Weltanschauungen lehnte er im Gegensatz zu vielen anderen Kirchenleuten in der DDR ab. "Darauf habe ich mich nie eingelassen", sagt Bräuer, "gerade hier durfte ich das nie tun." Der alte Mann richtet sich etwas auf in seinem abgenutzten, niedrigen Wohnzimmersessel. Fast als wolle er nochmals harte Haltung annehmen. Oder sich bei dem gewaltigen Ölporträt an der Wand Zustimmung einholen.

Anfangs, fährt Bräuer fort, sei er bei seinen Reihenbesuchen in den Wohnblocks noch freundlich empfangen worden. Viele Zuwanderer nach Stalinstadt waren Vertriebene aus dem Osten, gläubige Christen. "Damals war ja noch Volkskirche." Bald verspürte Bräuer den kirchenfeindlichen Kurs der jungen DDR immer stärker. Gerade in der Vorzeigestadt mußte der doch gelten. "Die Leute trauten sich nicht mehr, mich hineinzubitten." Was folgte, war ein erbitterter Kleinkrieg mit den Behörden um die Erlaubnis, überhaupt als Kirche in der Neustadt aktiv sein zu dürfen. Ein Bauwagen mußte für Bräuers Arbeit ausreichen.

1954, am Ostersonntag, lud er dann zum Gottesdienst in ein Missionszelt. Das bedeutete ein Sprung von 26 auf 180 Plätze. Und im Zelt saß man sogar auf festen Bänken. Danach folgte die Baracke - für mehr als 25 Jahre. Der Pastor und seine Frau zogen in die Hinterstube, vorn war Platz für die Seelsorge. Bald gab es zwei Baracken. Eine kleine zum Wohnen und eine größere als Kirchenersatz. Hoffnungen auf mehr gab es immer, manchmal sogar konkrete Pläne. Aber die Stadt zog sie alle wieder zurück.

Einmal wurde ein vollständiges Bauwerk aus Finnland als Geschenk angeboten, Bräuer durfte es nicht annehmen. Geduldig hielt er die Demütigungen aus. "Gott hat mich hierher gestellt, und Gott hat mir hier eine Aufgabe gegeben, und die habe ich zu erfüllen." Das diktierte der Pfarrer vor fast 20 Jahren einem westdeutschen Historiker in das Aufnahmegerät, der Eisenhüttenstädter Biographien erforschte. Die tiefe Religiosität als Schutzmantel. Doch kann man sich leicht ausmalen, daß auch dem kraftstrotzenden Pastor der Kragen oft geplatzt sein dürfte. Aber er riskierte nie, den Gesprächsfaden zur "Gegenseite" abreißen zu lassen.

Erst 1976 befand die DDR-Führung, daß ihre sozialistischen Städte reif genug wären, neue Kirchen zu verkraften. Ein Sonderbauprogramm "Kirchen für Neue Städte" wurde aufgelegt. Da konnte der unbeirrbare Pfarrer Bräuer nicht links liegen gelassen werden. Eisenhüttenstadt wurde sogar das Pilotprojekt. Was dabei wirklich lockte, waren die Devisen aus der Bundesrepublik. Das ging so: DDR-Kombinate errichteten das verklinkerte Gemeindezentrum in billiger Ausführung, und der Staat hielt den Klingelbeutel hin: 1,8 Millionen "West-Mark" ließ sich die DDR aus Bonn und von der westdeutschen evangelischen Kirche überweisen.

Das machte Schule, eine ganze Serie von Kirchen folgte. In Typenbauweise. Die Friedenskirche in Eisenhüttenstadt jedoch ist ein Unikum. Allerdings ein turmloses - als läge doch noch ein später Fluch Walter Ulbrichts darauf. Wirklich schuld waren jedoch die Baukosten. Schon ohne Kirchturm waren sie von den erwarteten 1,2 auf 1,8 Millionen Mark gestiegen. Mit einer Gemeinde von immerhin 2000 eingetragenen Christen bezog Bräuer im Mai 1981 seine Kirche - und alle, die sich so lange bekämpft hatten, machten in diesem Finale eine gute Miene. Der unbeugsame Pfarrer rang sich einen offiziellen Dank an die DDR-Regierung ab, und die gesamte Riege lokaler Parteioberer spendete beim Gottesdienst brav Geld in die Kollekte.

ZDF-Kameras fingen Szenen wie diese ein. "Ohne Gott in Schrottgorod" hieß der Beitrag über die langen Auseinandersetzungen um eben diese eine Kirche. Als "Schrottgorod" war die Stahlwerkerstadt im DDR-Jargon ohnehin längst verschrien, als sowjetischer Satellit, Hort der Staatstreuen. Und ausgerechnet dort sprachen nun, wohl unfreiwillig-unbotmäßig, die stolzen Kombinatsarbeiter von "unserer Kirche". Im Westfernsehen. Soviel Kumpanei von Staat und Kirche wollte nun auch wieder keiner. Wie zur Rache wurde der Friedensgemeinde hinterher verboten, ein Kreuz vor dem Gebäude aufzustellen. Und als Pfarrer Bräuer 1983 seinen Dienst beendete, gelang es der SED doch noch, Ruhe anzuordnen. Systemkonforme Geistliche folgten. In der Gemeinde regte sich - nichts. Nicht einmal im Jahr 1989, als überall oppositionelle Stimmen gegen den Staat laut wurden. Das gab es kaum irgendwo in der DDR.

Argwöhnisch beobachtete Bräuer seine Nachtwächterstadt. Im Ruhestand trug er seine Lebensgeschichte zusammen, minutiös und akkurat. 150 Exemplare des Buches über die Friedensgemeinde Eisenhüttenstadt wurden in den Neunzigern gedruckt. Heute ähnelt Bräuers Exemplar nur noch einem notdürftig zusammenkopiertem Konvolut, nach tausendmaligem Blättern. Aber er hat nur das eine. Er sagt seinen Gästen: "Besorgen Sie doch mal einen, der eine neue Auflage druckt."

Auf einem kleinen Tisch, der gleich neben seinem Bett steht und an dem er mittlerweile meistens arbeitet, liegt ein Buch über die Geschichte der Kirche im Nationalsozialismus. Das liest er gerade. Eine Haushaltshilfe kommt mehrmals pro Woche und hilft ihm durch die Wohnung. "Die Knochen wollen nicht mehr so", sagt er. Mitarbeiter der benachbarten Nikolaigemeinde von Fürstenberg bringen ihn sonntags in den Gottesdienst. Sein Radius ist klein geworden. Das große, echte Arbeitszimmer im Pfarrhaus betritt er fast nie. Es liegt kalt da.

Hastig ehrte ihn seine Stadt nach der Wende, vieles war gutzumachen. Schon seit 1990 ist er Ehrenbürger. "Der einzige lebende", sagt er stolz. Diese Ehre hat ihm auch das große Porträt in Öl eingebracht. 1999 bekam er das Bundesverdienstkreuz, 2002 "seine" Straße. Urkunden hängen an den Wänden. Außerdem ein Foto seiner verstorbenen Frau. Und eine papierne, schon verblichene Dänemark-Fahne. Ein unprätentiöses Schmuckstück. Aber sie steht für die Freundschaft seines Lebens, die zu einem dänischen Pastor. Er kam oft her, erzählt Bräuer, und zu DDR-Zeiten durfte er selbst den Freund auch zweimal besuchen.

Heute trifft sich beim Pfarrer noch regelmäßig ein Hauskreis. Christen der ersten Stunde Eisenhüttenstadts. Von denen gibt es in der Stadt eigentlich viele. Die Umgebung vergreist. Junge ziehen fort, die Alten bleiben. Trotzdem gibt es um Bräuer herum nicht viele Weggefährten, seine Welt war immer eine kleine Parallelwelt. Beim Hauskreis sind sie jetzt nur noch zu sechst. Genauso viele sitzen drüben in der Friedensgemeinde der Neustadt heutzutage in den Konfirmandengruppen.

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