Home     "Theaterszene Lateinamerika"      Bestellungen


Kultur und Krise / ila 274

Vom Boden unter der Telefonzelle
Gespräch mit Mitgliedern des „Zentrums des 
Theaters der Unterdrückten“ in Rio de Janeiro (CTO-Rio)

Seit seiner Gründung im Jahr 1986 arbeitet das CTO-Rio an der (Wieder-)Verbreitung des „Theaters der Unterdrückten“ in Brasilien – seinem Entstehungsort. Die TheatermacherInnen des Zentrums, die sogenannten Curingas/Joker (Olivar Bendelak, Geo Britto, Claudete Felix, Bárbara Santos, Helen Sarapeck), bauen Stadtteilgruppen in Rio auf, entwickeln eigene Performances und führen Fortbildungen für MultiplikatorInnen aus ganz Brasilien durch. Das CTO-Rio arbeitet eng mit der Landlosenbewegung MST, mit linken Stadt- und Landesregierungen und mit verschiedenen Gewerkschaften zusammen. Die Theatergruppen in Rio de Janeiro setzen sich aus Favela-BewohnerInnen und Hausangestellten zusammen, aus marginalisierten Jugendlichen und AktivistInnen der Schwulenbewegung.

Könnt ihr kurz darstellen, was das Zentrum des Theaters der Unterdrückten ist und was die Schwerpunkte eurer Arbeit sind?

Bárbara Santos: Wir sind ein Theaterzentrum hier in Brasilien, aber es gibt das Theater der Unterdrückten überall in der Welt, und wir haben deswegen auch zahlreiche Kontakte überall hin. Auch arbeitsmäßig pflegen wir den Austausch. Viele Gruppen im Ausland, mit denen wir Kontakt haben, haben schon Theater der Unterdrückten gemacht, bevor sie uns kennen lernten. Unser Sitz ist in Rio de Janeiro. Unser Hauptprojekt nennt sich „Legislatives Theater“. Unsere Idee ist es, Stadtteiltheatergruppen in den verschiedenen Bairos von Rio zu gründen. Es gibt Gruppen, die sich mit Frauenfragen beschäftigen, mit häuslicher Gewalt, mit Aidsprävention, Homosexualität. All diese Gruppen sollen unserer Absicht nach autonom sein. Die Gruppen sollen jeweils fest in ihrer Gemeinde verwurzelt sein und dort mittels des Theaters herausfinden, was die Probleme genau sind und welche Alternativen möglich sind. Gleichzeitig soll versucht werden, MultiplikatorInnen auszubilden, damit die Gruppen uns immer weniger brauchen und autonom werden. Heute gibt es in Rio sieben solcher Gruppen, sechs davon sind sehr stabil und eine ist dabei, ihr erstes Stück auf die Bühne zu bringen. Jede Gruppe hat ein Projekt, um sich selbst zu tragen. Und jede hat jemanden, der künftig die Gruppe koordinieren kann.

Soviel zu Rio. Daneben gibt es ein Projekt auf der Ebene ganz Brasiliens, welches „Menschenrechte auf der Bühne“ heißt. Dieses Projekt existiert in sechs Bundesstaaten – Rondônia, Sao Paulo, Pernambuco, Minas Gerais, Rio de Janeiro und Brasília – und verbindet jeweils Menschenrechte mit dem Strafvollzug. Dabei werden Leute ausgebildet, die im Strafvollzug arbeiten. Das Theater soll den nötigen Raum öffnen, um über Menschenrechte zu diskutieren. Wir haben mit Leuten gearbeitet, die im Vollzug arbeiten wie auch mit Gefangenen. Wir arbeiten mit ihnen, damit sie Szenen entwickeln, die zeigen, was sie unter Menschenrechten verstehen und worin sie Menschenrechtsverletzungen sehen. So soll sich ein Dialog innerhalb dieses Systems ergeben, aber auch zwischen den beiden Seiten im Strafvollzug und der Zivilgesellschaft. Das Gefängnis öffnet sich, damit die ZuschauerInnen kommen, um sich ein Theaterstück anzusehen. Umgekehrt gehen die Gefangenen heraus aus dem Knast, um ihr Stück draußen aufzuführen, etwa in einem Uni-Hörsaal, einem Kulturzentrum oder auf einem öffentlichen Platz. Mit diesem Projekt machen wir auch “Legislatives Theater”. Die dahinter stehende Idee ist, dass die Leute Alternativen suchen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, wenn sie in bestimmten Fällen verletzt werden, was sind dann die Alternativen, damit das aufhört? Wie kann man die Grundsituation verändern, was für eine Politik ist dazu nötig?

Könnt ihr noch ein wenig mehr über das Konzept „Legislatives – Gesetzgebendes Theater“ sagen? Man assoziiert den Begriff unmittelbar mit „Legislativer Versammlung“.

Bárbara: Ganz genau. Das Ziel hierbei ist, dass die Theateraufführung den Zuschauer in einen Gesetzgeber verwandelt. Er soll sich die Frage stellen: was täte ich, wenn ich Gesetze erlassen könnte, um zu verhindern, dass das geschieht, was ich da vor meinen Augen sehe? Nicht immer muss die Lösung in einem neuen Gesetz bestehen. Manchmal ist es so, dass das Gesetz, das am Ende vorgeschlagen wird, bereits existiert, aber nur toter Buchstabe ist. Dann geht es nur noch darum, das Gesetz zur Anwendung zu bringen und zu überlegen, wie das zu machen ist. 

Bei den Menschenrechten liegt die Sache etwas anders. Denn da fragen wir im Gefängnis die Gefangenen und die dort Arbeitenden, welche weiteren Menschenrechtserklärungen sie für nötig halten. Wir nennen das auch “Legislatives Theater”, aber dort wird in Wirklichkeit vorgeschlagen: “Ich erkläre hiermit...”. Es geht also um eine Deklaration. Die Versammlung muss immer auch abstimmen. Bei den so zustande gekommenen Erklärungen sind wir stets überzeugt, dass sie gut sind. Wir sind von vornherein dafür und würden für sie kämpfen. Wir schaffen damit Kommunikation, aber auch Engagement. Wir wollen, dass auch diejenigen, die im Gefängnis sind, sich engagieren. Wir haben dort sehr viele Veranstaltungen gemacht, zunächst mit den Gefangenen untereinander, dann Gefangene gemeinsam mit Knastangestellten, dann auch mit Leuten von draußen, die zu den Aufführungen kommen. Und schließlich gehen die Gefangenen nach draußen. Wir verhandeln jedesmal mit der Gefängnisleitung, um die Erlaubnis dazu zu bekommen. Das klappt natürlich nicht immer, da es auch Gefängnisse mit geschlossenem Strafvollzug gibt.

Ist es einfach, die Erlaubnis zu bekommen, um im Gefängnis zu arbeiten?

Bárbara: Das erste Mal haben wir das 2001 durchexerziert, und zwar in Sao Paulo. Wir haben dort mit der Stadtregierung verhandelt. Das heißt, wir hatten die notwendigen Papiere schon in den Händen, als wir vor den Gefängnistüren standen. Die Regierung hatte die Erlaubnis als Teil ihrer Politik in Sachen Strafvollzug erteilt. Aber trotzdem kamen wir nicht in allen Fällen in das Gebäude, weil manchmal die Gefängnisleitung in der Praxis die Erlaubnis unterlief. In Sao Paulo waren wir in 33 Gefängnissen. In den sechs Bundesstaaten verhandeln wir mit den Justizministerien und präsentieren das Projekt als ein Menschenrechtsprogramm. Zweifellos ist das erst der erste Schritt, danach müssen wir mit jedem Gefängnisdirektor einzeln sprechen. Aber wir kommen dann schon mit einem genehmigten Programm, nicht als Künstler, die einzeln betteln.

Wie reagieren die Gefangenen?

Bárbara: Ganz toll. Wir haben da noch nie ein Problem gehabt. Mit den Angestellten durchaus, mit den Gefangenen nie. Es gibt allerdings auch Gefängnisse mit Hochsicherheitstrakten. Mit den dort einsitzenden Gefangenen konnten wir keinen Kontakt aufnehmen. Aber bei denen, mit denen wir arbeiten konnten, ist die Akzeptanz praktisch 100 Prozent. Das einzige Problem, das bisher aufgetaucht ist, war die Religion. Da kam es vor, dass evangelikale Prediger den Gefangenen eingeimpft hatten, dass das Theater Teufelswerk sei und dass sich sie davon fernhalten sollten.

Geht es um Menschenrechtsverletzungen allgemein oder um solche, die im Strafvollzug passieren?

Bárbara: Um letzteres. Das haben wir mit Absicht so gefasst. Selbstverständlich kamen auch Menschenrechtsverletzungen im Leben des Gefangenen vor, bevor er ins Gefängnis kam. Aber wir wollen nicht die Welt im allgemeinen, sondern den Strafvollzug diskutieren.

Habt ihr Kontakt zu Menschenrechtsgruppen in Brasilien?

Bárbara: Im Laufe der Arbeit an einem Stück nehmen wir Kontakt mit denjenigen auf, die zur Aufführung kommen und als Resonanzboden für die in dem Stück entwickelten Vorschläge wirken sollen. In Sao Paulo haben wir zur Aufführung des Stücks am Ende des Produktionsjahres insbesondere VertreterInnen der Stadt- wie der Bundesstaatsregierung eingeladen, damit all diese Erklärungen, die von den Gefangenen und vom Gefängnispersonal erarbeitet worden waren, den Gesetzgebern aus dem Parlament, insbesondere dem Menschenrechtsausschuss, dem Stadtrat und der Bundesstaatsregierung, und zwar dem Justizministerium, zu Ohren kamen. Diejenigen, die mit Menschenrechten arbeiten, sollten so konkret eingebunden werden, um den weiteren Fortgang zu begleiten. Denn unsere Arbeit hört dort irgendwann auf, und sie müssten die Stafette übernehmen. Unser Anteil ist, Leute so weit zu unterstützen, dass sie eine Bewegung bilden können.

Gibt es Vorlagen für die Stücke?

Bárbara: Nein, wir kommen nicht mit einem fertigen Stück, sondern wir bilden die Leute aus, die ein Stück machen sollen. Wir beginnen jetzt in etwa das gleiche Projekt mit Jugendlichen, und zwar hier in Rio in Erziehungsheimen, die ja auch irgendwie Gefängnisse sind. Nur heißen die Insassen nicht Gefangene sondern „zu Erziehende“ im Alter von 12 bis 18, maximal 21 Jahren. Die Höchststrafe dort sind drei Jahre. Das heißt, wer mit knapp 18 verurteilt wird, bleibt dort bis 21, weil es verboten ist, sie in das Erwachsenensystem zu überführen. Es gibt dort also Minderjährige im Sinne des Rechts, die erwachsen sind. Das Programm ist ähnlich wie das in den Gefängnissen, hat dann aber doch ein anderes Profil. Wir bilden dort ebenfalls das Aufsichtspersonal aus, damit sie mit den Jugendlichen zusammenzuarbeiten lernen. Aber wir gründen dort auch richtiggehende Jugendtheatergruppen, eine für Jungen und eine für Mädchen. Unsere Hoffnung ist, dass sie, wenn sie das Erziehungsheim verlassen, dabei bleiben, dass wir es also schaffen, eine Theatergruppe von Ex-InsassInnen aufzubauen. Wir gehen davon aus, dass wir in etwa anderthalb Jahren mit der Arbeit draußen beginnen können. Das Prinzip ist das gleiche wie sonst auch. Die Mitglieder sollen MultiplikatorInnen werden und durch die Theaterarbeit die entsprechenden Instrumente in die Hand bekommen.

Schließlich wäre noch ein Ausbildungsprojekt für progressive Bürgermeisterämter zu nennen, das wir ebenfalls haben. Dabei geht es um die sogenannte “Participação Popular”, Bürgerbeteiligung. Einige Aspekte sind ja inzwischen weit über Brasilien hinaus bekannt, z.B. der partizipative Haushalt oder so eine Art Volkshochschulen (“aulas públicas de cidadania”), also Programme, zu denen unsere Methodologie sehr gut passt. Uns geht es darum, Leute auszubilden, die in diesen Bereichen tätig werden wollen. Wir haben das bereits in Porto Alegre gemacht, in Santo André, in Juiz de Fora und derzeit in Sao Paulo. Beteiligt daran sind im Augenblick 36 Personen.

Wir machen so etwas Ähnliches auch mit der MST, der Landlosenbewegung. Da gibt es ein Programm auf nationaler Ebene, wo einige AktivistInnen der MST ausgebildet werden. Sie kehren danach in ihre jeweilgen Bundesstaaten zurück und können in den acampamentos (Landbesetzungen) mit unserer Methodologie selbständig arbeiten. Es geht der MST dabei nicht nur oder vor allem um die Bildung weiterer Gruppen in den acampamentos, sondern um eine Methode zur Fortbildung. Sie benutzen das Theater der Unterdrückten, um Kader auszubilden.

Nicht gerade neu, aber dennoch ein Bereich, in den wir gerade einsteigen und in dem wir bislang recht wenig gearbeitet haben, ist die Umwelterziehung. In der Baía de Guanabara (die Küstenregion um Rio de Janeiro – die Red.) wird derzeit über die Frage der Entgiftung der Baía diskutiert. Wir haben Forumtheateraufführungen in 12 Gemeinden der Baía gehabt; in fünf Gemeinden wollen wir versuchen Theatergruppen zu gründen, die sich mit der Frage Umwelt auseinandersetzen. Sie sollen Aufführungen zu lokalen Umweltaspekten machen, denn es gibt zwar das generelle Thema verschmutzte Baía, aber jede Gemeinde hat einen anderen Blickwinkel und Anteil. Manche sehen das aus der Perspektive der Fischer, andere wiederum haben Probleme mit Fabriken. Mit den Theatergruppen wollen wir herausbekommen, was die Gemeinden jeweils für besonders wichtig halten. “LebensschützerInnen” nennen wir dieses Programm (was im Brasilianischen nichts zu tun hat mit den reaktionären AbtreibungsgegnerInnen hierzulande; die Ü.)

Wichtig für unsere gesamte Arbeit ist natürlich auch METAXIS, unsere zweisprachige Zeitschrift auf portugiesisch und englisch. Sie ist auf ein internationales Publikum ausgerichtet und bezieht sich nicht allein auf das Theater der Unterdrückten in Brasilien. Sie ist ein Kommunikationsmittel für alle, die sich irgendwo auf der Welt mit dem Thema befassen. Bis jetzt haben wir nur zwei Nummern herausgebracht, die dritte ist in Vorbereitung.

Ihr begebt euch bei den Ausbildungen jeweils in Situationen, die psychisch nicht nur sehr verschiedenartig, sondern auch sehr problematisch sein können. Wie fangt ihr das auf?

Bárbara: Dafür haben wir etwas, das wir „Laboratorium“ nennen. Wir treffen uns mit Boal, unserem künstlerischen Leiter, um die Programme wie auch die Techniken zu diskutieren. Wie funktionieren sie im jeweiligen Fall, wie kommen sie vom Standpunkt des Theaters aus an? Das ist sozusagen unser Recycling von allem, was sich aufstaut. Dazu kommt das Problem, dass manche Programme eine Finanzierung haben, andere nicht. Beispielsweise kriegen wir für die Arbeit mit der MST keinen Centavo, da legen wir drauf. Die Workshops dauern, sagen wir, zwei Wochen, und das heißt, wir müssen zwei Wochen ohne Bezahlung über die Runden kommen. Aber uns interessiert diese Arbeit mit der MST in politischer und philosophischer Hinsicht. Dabei lernt man viel. 

Wir selbst sind keine SpezialistInnen in Fragen der Agrarreform. Das ist auch gar nicht nötig, dazu sind die Leute von der MST selbst da. Wir sind lediglich SpezialistInnen in Instrumenten, die wir ihnen zur Analyse an die Hand geben. Wir gehen zu einer neuen Gruppe und entdecken zusammen mit dieser Gruppe, was deren spezifische Probleme sind. Die Arbeit mit der MST ist ein Geben und Nehmen. Wir vermitteln ihnen Techniken, und sie vermitteln uns, wie diese Techniken bei ihren Themen funktionieren. Darüber lernen wir, was die MST ist und welche Probleme sie betreffen. Bei der Arbeit in den Gefängnissen ist das nicht anders. Wir wissen vorab nicht allzu viel davon, wie das Leben in einem Gefängnis ist. Wir haben natürlich vorher irgendetwas darüber gelesen. Aber erst wenn wir die Technik vermitteln und sehen, wie sie unsere Vorgabe in ihren Zusammenhang übersetzen, lernen wir, welche Probleme existieren und wie man versucht damit klar zu kommen.

Zu der Analyse der Arbeit gehört zunächst einmal die künstlerische Bewertung des Theaterstücks, aber dann auch eine Bewertung dessen, was aufgrund dieses Theaterstücks passiert: was verändert sich dadurch. Dafür haben wir immer jemand, der die Ergebnisse prüft: gibt es Veränderungen im Verhalten der Betroffenen, in der Politik, in den Institutionen, in den Behörden, auf Gesetzesebene? Wo haben wir es geschafft, uns einzumischen, wo bewegen sich die Dinge? Diese Evaluierung können wir nicht selbst vornehmen, weil wir zu sehr drin sind in der Sache. Deswegen haben wir dafür einen Externen, der vom Lateinamerikanischen Institut für Menschenrechte kommt.

Habt Ihr auch schon einmal Überraschungen bei einer Evaluierung erlebt?

Claudete Félix: Die Evaluierungen überraschen uns immer, wie auch die Projekte selbst. Wir sind am Anfang nie sicher, was dabei herauskommt. Ganz spannend ist die Zusammenarbeit mit der MST. Man muss sich vorstellen, dass die Teilnehmerinnen der MST an einem Workshop aus sehr unterschiedlichen und weit entfernten Gegenden kommen. Wir hatten hier 25 Führungsleute aus ganz Brasilien, manche waren drei, vier Tage bis hierher unterwegs. Nach ihrer Rückkehr haben sie mit vielen Gruppen gearbeitet, unsere Technik hat sehr viele konkrete Wurzeln geschlagen. Immer wenn wir unterwegs sind, hören wir irgendwo, dass dort unsere Theatertechniken benutzt wurden. Auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre hat die MST das Theater der Unterdrückten benutzt, um zu erklären, was sie sind und was sie wollen. Das war schon ergreifend zu sehen, wie jemand diese Technik souverän einsetzte, obwohl er bei unserem Workshop gar nicht dabei war. Die MSTlerInnen haben bekanntlich die Praxis, Wissen nicht auf eine kleine Gruppe zu konzentrieren, sondern weiterzugeben. Und das haben sie beim Theater der Unterdrückten ganz offenkundig auch getan.

Olivar Bendelak: Noch etwas zum “Legislativen Theater”, mit dem wir uns seit 1993 beschäftigen. Seither haben wir 33 Gesetzanträge ausgearbeitet, bei denen es in immerhin 13 Fällen zu Gesetzen auf kommunaler Ebene kam. Im Dezember 2001 haben wir unser erstes Gesetz auf Bundesstaatsebene durchgebracht.

Worum geht es bei diesen Gesetzen?

Olivar: Um Unterschiedliches. Bei zweien geht es um Behindertenpolitik. In Brasilien sind die öffentlichen Telefone normalerweise in schalenförmigen offenen Ständen untergebracht, den sogenannten „großen Ohren“. Wer Sehprobleme hat, läuft durchaus mal gegen so ein Ohr. Um das zu verhindern, muss der Boden unter einem Telefonstand anders beschaffen sein, damit man beim Gehen aufmerksam wird. Über die Arbeit mit einer Gruppe Sehbehinderter haben wir dieses Problem entdeckt und haben dann einen Gesetzesvorschlag erarbeitet, der die Beschaffenheit des Bodens unter einem Telefonstand betrifft. Bei einem anderen ging es um ältere Leute. In einer Gemeinde gab es keine Ärzte für Geriatrie. In einem Workshop mit Alten sind wir auf dieses Problem gestoßen. Die alten Leute sind mit dem Gesetzesvorschlag zum Gemeinderat marschiert und haben die Gemeinderatsmitglieder überzeugt, für dieses Gesetz zu stimmen. Doch der Bürgermeister hat sein Veto eingelegt. Da sind wir mit den alten Leuten ins Krankenhaus gezogen, und alle haben sich krank gestellt und einen Arzt für Geriatrie verlangt. Natürlich waren die Presse und Fernsehkameras dabei. So haben wir erreicht, dass das Veto gefallen ist.

Bárbara: An dem Beispiel sieht man, dass wir selbst keine SpezialistInnen für die jeweiligen Themen sind. Die Ideen kamen von den Leuten selbst. Wir müssen nur die richtigen Fragen stellen, damit die Probleme und Lösungsvorschläge aus den Leuten heraus kommen.

Ist es schon vorgekommen, dass die Leute Vorschläge erarbeitet haben, mit denen ihr nicht einverstanden wart?

Bárbara: Selten. Wir diskutieren die Vorschläge ja immer, und dabei werden Argumente und Gegenargumente ausgetauscht und Widersprüche kommen zum Vorschein. Wir selbst sind nie neutral, und wir würden auch nichts fördern, was uns komplett widerstrebt.
Bei der Arbeit mit Gefängnisinsassen habe ich schon sehr heftige Kontroversen erlebt. Kürzlich ging es beispielsweise um die Frage des Rechts auf Rebellion. Wer ist dann der Unterdrücker, wer der Unterdrückte? Da ging es hoch her. Und die Diskussion war überhaupt nicht theoretisch, sondern es ging immer um Vorschläge, die dann kontrovers diskutiert wurden. Wenn im Publikum Zuschauer aus der Menschenrechtsszene und Gefängnispersonal sitzen, kommt es auch oft zu einem intensiven Schlagabtausch. Das ist nicht einfach, aber wir wollen das auch so. Wir wollen die Probleme herauskitzeln und diskutieren, um Lösungen zu finden. Am Schluss muss immer eine Forderung stehen, der die Leute zustimmen können.

Stand beim Thema Rebellion nicht das Sicherheitsbedürfnis im Vordergrund?

Bárbara: Nein, keineswegs. Es ging vor allem um die menschlichen Beziehungen. Bei welchem Verhalten wird die Repression und Spannung größer, wann nimmt sie ab? Und zwar nicht nur auf Seiten des Sicherheitspersonals, sondern auch bei denjenigen hinter Gittern. Das Bedürfnis nach klaren Regeln, nicht nach mehr Wache, spielte eine große Rolle. Und natürlich die Menschenrechte der Gefangenen. Unter welchen Bedingungen, bis hin zur Essensqualität, stauen sich Aggressionen auf? Was im Gefängnis fehlt, ist der Dialog, die Leute reden nicht miteinander, sondern führen alle nur Monologe. Sicher sind nicht alle Menschen dialogfähig, aber wenn sie bereit sind, beim Theater der Unterdrückten mitzumachen, dann ist zumindest eine Tür offen.

An dem Gespräch im Januar 2003 in Rio de Janeiro nahmen Till Baumann, Gert Eisenbürger, Esther Kabey, Gaby Küppers, Ingrid Spiller und Karin Urschel teil. Übersetzung und schriftliche Bearbeitung Gaby Küppers.

Centro de Teatro de Oprimido
von Till Baumann

Das Centro de Teatro do Oprimido (Zentrum des Theaters der Unterdrückten – CTO-Rio) wurde nach der Rückkehr Augusto Boals nach Rio de Janeiro im Jahr 1986 gegründet. Boal hatte als Leiter des Teatro de Arena in Sao Paulo bereits in den 50er und 60er Jahren erste Ansätze des Theaters der Unterdrückten entwickelt. Während der brasilianischen Militärdiktatur wurde er verhaftet, gefoltert und gezwungen, das Land zu verlassen. Er lebte in Argentinien, Portugal und schließlich mehrere Jahre lang in Paris, wo er das erste Zentrum des Theaters der Unterdrückten (CTO-Paris) gründete. 

Die TheatermacherInnen des Zentrums in Rio bauen Stadtteilgruppen auf, entwickeln eigene Performances und führen Fortbildungen für MultiplikatorInnen aus ganz Brasilien durch. Häufig machen beim CTO-Rio Menschen Theater, die noch nie ein Theater betreten haben. Die Gruppen arbeiten vor allem mit Forumtheater, um ihre Lebensrealitäten zu theatralisieren und über Aufführungen im öffentlichen Raum den Dialog mit dem Publikum zu suchen. So zum Beispiel die „Marias do Brasil“, eine Gruppe von Hausangestellten, deren erstes Stück von der klassischen „Karriere“ einer empregada doméstica handelt: Maria wird im interior des brasilianischen Nordostens geboren, dort wo Armut und Trockenheit am größten sind. Sie entscheidet sich dafür, dem Hunger zu entfliehen, ihre Familie zu verlassen und in die Metropole Rio de Janeiro zu gehen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Ihre einzige Überlebensmöglichkeit ist die Arbeit als Hausangestellte im Haus einer reichen Familie, miserabel bezahlt und unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Als sie beginnt, selbstbewusster aufzutreten und ihre Rechte einzufordern, wird sie auf die Straße gesetzt. 

Szenen wie diese, die auf den Biographien der Gruppenmitglieder beruhen, werden im öffentlichen Raum aufgeführt: auf der Straße, auf Schulhöfen, bei Festen und Veranstaltungen. Zunächst wird die Szene gezeigt, dann beginnt das von einem der Curingas moderierte Forum: die Suche nach Veränderungsmöglichkeiten. Hierbei geht es nicht um Reden, sondern um Handeln: ZuschauerInnen mischen sich in die Szene ein und spielen ihre Handlungsideen in den Rollen der unterdrückten Figuren. Eine Probe auf die Realität.  Als Augusto Boal von 1993 bis 1996 Abgeordneter des Partido dos Trabalhadores (PT) im Stadtparlament Rio de Janeiros war, entwickelte er gemeinsam mit seinen MitarbeiterInnen das Legislative Theater. Hierbei werden bei Forumtheateraufführungen Gesetzesideen entwickelt, die dann über den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess zu Gesetzen werden. Auch nach Ende der Mandatszeit Boals im Jahr 1996 wurde das Experiment Legislatives Theater fortgesetzt. Seit Mitte der 90er Jahre sind auf diese Weise in Rio de Janeiro 14 Gesetze entstanden. 

Seit 2001 gibt das CTO-Rio die Zeitschrift METAXIS in englischer und portugiesischer Sprache heraus.

Theater der Unterdrückten
von Till Baumann

Theater der Unterdrückten besteht aus einer Vielzahl von Spielen, Übungen und Techniken, mit deren Hilfe die Mitwirkenden ihre Lebensrealitäten in Szene setzen und gemeinsam mit dem Publikum erste Schritte zur Veränderung proben. Als Begründer des Theaters der Unterdrückten gilt der brasilianische Theatermacher Augusto Boal. Eng verbunden mit Paulo Freires “Pädagogik der Unterdrückten” stellt das Theater der Unterdrückten gesellschaftliche Realitäten in Frage und regt zur Probe ihrer Veränderung an. So zum Beispiel beim Forumtheater, in dem Teilnehmende ihre Situationen von Unterdrückung in Szene setzen und hieraus Szenen entwickeln, die im öffentlichen Raum aufgeführt werden. In der Regel geht es um eine Person, die sich mit ihren Interessen nicht durchsetzen kann und von ihren MitspielerInnen unterdrückt wird. 

Der Joker, eine Art Vermittler zwischen Publikum und Bühne, motiviert das Publikum, sich direkt in die Szene einzumischen und Lösungsvorschläge anzubieten. Nacheinander kommen die ZuschauerInnen nun auf die Bühne und zeigen spielerisch Handlungsalternativen. Bildertheater ermöglicht die Kommunikation über Körper-Bilder, indem z.B. die unbefriedigende Realität in selbstgemachten Bildern sichtbar gemacht und reflektiert wird (Realbild) und über das veränderte Bild (Idealbild) nach dem Bild der Veränderung (Übergangsbild) gesucht wird. Unsichtbares Theater provoziert die Auseinandersetzung mit Themen im öffentlichen Raum und regt zum Einmischen an – wobei die meisten AkteurInnen nicht wissen, dass sie sich in einer Theaterhandlung mit offenem Ausgang bewegen. Die Basis des Zeitungstheaters sind alltägliche Zeitungsmeldungen, die jedoch auf ganz ungewohnte Weise im öffentlichen Raum inszeniert werden und so zum kritischen Nachdenken und Nachfragen anregen.

Eine neuere Entwicklung des Theaters der Unterdrückten sind die “introspektiven Techniken” des Regenbogens der Wünsche, in denen nicht nur gesellschaftliche, sondern auch psychische Prozesse und internalisierte Unterdrückungsmechanismen zum Thema von Theaterarbeit werden. Das Legislative Theater als jüngste Weiterentwicklung des Theaters der Unterdrückten ist ein Ansatz, in dem Forumtheater zur Basis neuer Formen partizipativer Politik und direkter Demokratie wird.


Zum Weiterlesen: 
Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt a.M. 1989
Boal, Augusto: Legislative Theatre, London 1998
Boal, Augusto: Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie, Seelze 1999
Baumann, Till: Von der Politisierung des Theaters zur Theatralisierung der Politik. Theater der Unterdrückten im Rio de Janeiro der 90er Jahre, Stuttgart 2001.
Kempchen, Doris: Wirklichkeiten erkennen – enttarnen – verändern. Dialog und Identitätsbildung im Theater der Unterdrückten, Stuttgart 2001
Wiegand, Helmut: Die Entwicklung des Theaters der Unterdrückten seit Beginn der achtziger Jahre, Stuttgart 1999

Links: 
www.tillbaumann.de  Workshops und Fortbildung zum Thema
www.theateroftheoppresed.org

www.ctorio.com.br

Anfang