I. "Die Hugenotten" sind heute kein Unterrichtsgegenstand,
der in den Rahmenrichtlinien der deutschen Länder besondere Bedeutung
hätte. Kaum dass die Hugenotten in den Geschichtslehrbüchern noch
Erwähnung finden. In dem wohl verbreitetsten deutschen Geschichtslehrbuch
für Gymnasien ("Das Geschichtsbuch 2 - Neue Ausgabe", Cornelsen-Verlag,
Berlin) wird auf sie im Kapitel "Der Calvinismus" mit acht Zeilen
hingewiesen (S. 62). Etwas weiter unten werden "die Kämpfe zwischen
Hugenotten und Guisen" am Ende des 16. Jahrhundert erwähnt und
in paraphrasierender Form vier wesentliche Bestimmungen des Edikts von Nantes
(1598) wiedergegeben (S. 65). Unter der Überschrift "Der Staat
greift überall ein" - das Gesamtkapitel ist dem Thema "Frankreich:
Ein Modell für Europa" gewidmet - wird recht knapp beschrieben,
aus welchen Gründen es in Frankreich zur "Einschränkung der
Religionsfreiheit" (so die Überschrift des Unterkapitels) kam
und welche Auswirkungen die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 auf die
Hugenotten hatte: Verbot des Rechts auf freie Religionsausübung mit
der Konsequenz, dass mehr als 200 000 Hugenotten ihr Heimatland verließen
(S. 83). Weder werden die Aufnahmeländer genannt, noch erfahren die
Schülerinnen und Schüler etwas über die Lebens- und Arbeitsbedingungen,
die die Hugenotten dort vorfanden. Auch der langsame Prozess der Integration
und der Assimilation wird nicht erwähnt. Andere Geschichtslehrbücher
sind kaum ausführlicher, allenfalls dass dort noch auf die Bedeutung
der einwandernden Hugenotten für den Aufbau bestimmter einheimischer
Industriezweige hingewiesen wird (z.B. ANNO 2, Westermann-Verlag, Braunschweig).
Fast noch desolater ist das Ergebnis einer Durchsicht der Geschichtslehrbücher
für die gymnasiale Oberstufe, wo die Erwähnung der Hugenotten
einem bloßen name dropping gleichkommt (s. etwa: Geschichte und
Geschehen I - Oberstufe, Ausgabe A, Klett-Verlag, Stuttgart). Etwas ausführlicher
ist die Darstellung der Hugenotten in einem Geschichtslehrbuch (Geschichte
und Geschehen Niedersachsen G2, Klett-Verlag, Stuttgart), das sich zwar
ganz allgemein "Geschichtliches Unterrichtswerk für die Sekundarstufe
I" nennt, dort aber wohl auch in Realschulklassen verwendet werden
kann und soll. "Hugenotten in Deutschland - Warum verlassen Menschen
ihre Heimat?" (S.116-119) ist das entsprechende Kapitel überschrieben,
das sehr viel mehr Informationen enthält als die oben genannten Gymnasiallehrbücher
und das sehr viel anschaulicher - teilweise aus der Sicht von Emigranten
- die Motive der Glaubensflüchtlinge, ihre Aufnahme in Deutschland
und die Entstehung von Hugenottenstädten (hier: Pfalzburg) darstellt.
Angesichts dieser doch eher unbefriedigenden Berücksichtigung der
Hugenotten in deutschen Rahmenrichtlinien für Geschichte und in Geschichtslehrbüchern
wird man davon ausgehen müssen, dass das Thema in den Schulen - wenn
überhaupt - nur eine sehr unzureichende, verkürzte Behandlung
findet. Man muss angesichts dieser Sachlage befürchten, dass Schülerinnen
und Schüler nach Abschluss des Schuljahrs, in der die Hugenotten
angesprochen werden, erst recht aber nach Abschluss ihrer Schulzeit kaum
noch etwas über die Hugenotten wissen. Die wissenschaftliche Darstellung
von Frau Fuhrich-Grubert und das von ihr bereitgestellte Material kann
hier Abhilfe schaffen.
II. Das Thema "Hugenotten" kann im Geschichtsunterricht
als Beispiel für die erzwungene Auswanderung von Menschen über
Grenzen hinweg unterrichtet werden. Hier kann gezeigt werden, wie religiöse
Unduldsamkeit, begleitet von materieller Not und politischer Unterdrückung,
die davon Betroffenen zu Entscheidungen veranlasst, die ihre Lebenssituation
grundlegend verändert und die sie gar den Verlust des Lebens in Kauf
nehmen lässt. Hier handelt es sich überdies um ein Unterrichtsthema,
das Lehrer und Schüler in die Lage versetzt, historisch-politische
Sachverhalte der Gegenwart - also etwa aktuelle Migrationsprozesse, Fremdenfeindlichkeit,
Probleme der Akkulturation, Integration und Assimilation, kulturelle und
ethnische Identität u.a. - in historischer Perspektive zu beleuchten.
Man wird das Thema "Die Hugenotten" also nicht in erster Linie
als ein Ereignis der Vergangenheit behandeln, sondern es in seiner Bedeutung
für das Verständnis von Gegenwartsphänomenen zu würdigen
haben. Die Beschäftigung mit dem Thema "Hugenotten" mag
Schülerinnen und Schülern dazu verhelfen, sich mit den gegenwärtigen
Problemen der Migration rationaler auseinanderzusetzen, als dies ohne
die historischen Kenntnisse geschehen würde. Auch wenn die Wanderungsströme
im heutigen Europa nicht durch Verfolgung aus Glaubensgründen ausgelöst
werden, so kann die Beschäftigung mit den Hugenotten doch auch Einsichten
vermitteln, die bei der Einschätzung der Gegenwartsphänomene
hilfreich sein können:
- die Bereitschaft, Toleranz zu üben,
- den Immigranten die Integration zu erleichtern, auch indem ihnen Möglichkeiten
zur wirtschaftlichen Entfaltung eröffnet werden
- ihnen, wenn sie es wünschen, die Wahrung ihrer Kultur zu ermöglichen
(vor allem dann, wenn eine Rückwanderung nicht ausgeschlossen ist),
- das Verständnis für die Beweggründe der Flucht oder
Emigration anzubahnen,
- den Beitrag, den die Fremden und das Fremde für unsere Gesellschaft
bedeuten können, als Bereicherung unserer Kultur zu erkennen und
zu akzeptieren.
Dieser letztgenannte Gesichtspunkt kann durch die Beschäftigung
mit den Hugenotten eine historische Untermauerung erfahren. Nicht nur
in der Literatur haben Hugenottenabkömmlinge Großes zur deutschen
Kultur beigetragen (Friedrich de la Motte Fouqué [1777-1843], Willibald
Alexis [1798-1871], Theodor Fontane [1819-1898]); auch in anderen Disziplinen
finden wir herausragende Nachkommen der Glaubensflüchtlinge: der
Physiologe Emil DuBois-Reymond, die Gelehrtenfamilie Erman mit dem Historiker
Jean-Pierre Erman, dem Physiker Paul Erman und dem Ägyptologen Adolf
Erman. Zu erwähnen wären hier die hugenottischen Buchhändler
und Verleger, die das geistige Leben Berlins und Preußens bereicherten,
und auch das berühmte Französische Gymnasium in Berlin, auf
dem nicht nur Hugenottenkinder ausgebildet wurden, sondern etwa auch Kurt
Tucholsky und Maximilian Harden.
III. Die Geschichte der Hugenotten in Deutschland, also die Epoche
der Integration und Assimilation, die mit der Ankunft der Glaubensflüchtlinge
in verschiedenen deutschen Territorien begann, ließe sich auch bei
einer anderen Schwerpunkt- und Zielsetzung betrachten, dann nämlich,
wenn das Lernziel "Fremdverstehen", wenn also der Gegensatz
"wir und die anderen" im Vordergrund stehen soll. Der Beitrag
von Frau Fuhrich-Grubert zeigt, mit welchen Schwierigkeiten die Hugenotten
bei ihrer Ankunft in Deutschland zu kämpfen hatten. Gegenüber
der Eigengruppe, also den Preußen oder Hessen, waren die Hugenotten
die Fremden, die anderen. Am historischen Material könnte auf bi-
oder multiperspektivische Weise gezeigt werden, auf welche Fremdheiten
die Hugenotten trafen und wie die Preußen oder Hessen ihrerseits
mit den ihnen fremden, anderssprachigen Franzosen umgingen. Aus der biographischen
Sicht der je anderen lassen sich das Erstaunen der Ankömmlinge wie
der Einwohner feststellen und die wechselseitige Fremdheit geradezu mit
Händen greifen. Mit Rollenspielen kann diese Situation besonders
eindringlich dargestellt und in Erfahrung gebracht werden. Spätere
Zeugnisse beider Gruppen ermöglichen es den Schülerinnen und
Schülern, den Fortgang der Integration hin bis zur vollständigen
Assimilation nachzuvollziehen.
IV. Ferner wäre es denkbar, in einem fächerübergreifenden
Unterrichtsprojekt (Geschichte/Religion/Ethik) das Schicksal der Hugenotten
im Kontext mit dem Los und den Erfahrungen anderer Glaubensflüchtlinge
zu erforschen: also etwa mit den Waldensern in Württemberg und Hessen,
den Salzburger und Zillertaler Exulanten, den Pilgrim Fathers, vielleicht
auch mit der Vertreibung der Jesuiten aus Lateinamerika im 18. Jahrhundert.
Es wäre dann im Unterricht zu klären,
- inwieweit sich die Probleme, die zur Massenauswanderung der genannten
Bevölkerungsgruppen geführt haben, überall gleich gewesen
sind oder unterschiedliche Ursachen hatten,
- mit welcher Begründung eine bestimmte Bevölkerungsgruppe
von der Obrigkeit unterdrückt und deren Vertreibung provoziert
bzw. hingenommen wurde und wie sich die jeweilige Mehrheitsbevölkerung
gegenüber den diskriminierten Gruppen verhielt,
- was für die Emigranten den Ausschlag gegeben hat, bestimmte Länder
als Ziel ihrer Flucht zu wählen und - umgekehrt - welche Gründe
die Aufnahmeländer hatten, die Flüchtlinge aufzunehmen,
- ob die Integration der Flüchtlinge in den Aufnahmeländern
gelang und warum dieser Prozess ggf. so lange dauerte,
- ob Flucht bzw. Vertreibung aus Glaubensgründen heute noch vorkommen
und inwieweit sich diese gegenüber früher grundsätzlich
unterscheiden.
Ein Projekt könnte mit dem Besuch des Deutschen Hugenotten-Museums
in Bad Karlshafen (Hessen), des Hugenotten-Museums Berlin im Französischen
Dom am Gendarmenmarkt oder den entsprechenden Abteilungen in verschiedenen
Stadtmuseen (Erlangen, Friedrichsdorf, Hofgeismar, Neu Isenburg) abgeschlossen
werden (s. den Vorschlag zur Nutzung des Museums in Bad Karlshafen und
das Verzeichnis der Museen in Praxis Geschichte, Heft 3/1992, S. 56-58).
Dieser Besuch sollte zur Vertiefung und Veranschaulichung des Gelernten
beitragen.
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