Das Frühmittelalter im Überblick: Bittbrief eines während der Sachsenkriege umgesiedelten Sachsen an Kaiser Ludwig den Fromme

Gerhard Schmitz, Quellensammlung zur Vorlesung: Das Frühmittelalter im Überblick (Wintersemester 1997/98)
Bittbrief eines während der Sachsenkriege umgesiedelten Sachsen an Kaiser Ludwig den Frommen

MGH Epp. 5 (Karol. aevi 3), hg. von E. Dümmler u. a. (1892) S. 300f.

Piissimis auribus vestris, clementissime ac gloriose imperator, non praesumptionis audatia, sed pro magna necessitate mea suggerere conabor, qualiter a me peccatore et mea sorore paterna hereditas nostra erat primo elongata et adhuc etiam abstracta. Et ideo, piissime imperator et omnium indigentium misericordissime suffragator, multum indigemus patrocinio vestro, quatenus per misericordiam ac elymosinam vestram ad ipsam hereditatem pervenire valeam; eo quod ullo modo aliter nobis ea restitui, non valet, nisi per vestram devotissimam semperque benivolam iuste faciendi clementiam. /S. 301/ His ita, domine mi, utcumque praedictis, audire dignetur excel1entia vestra reclamationem miseriae nostrae.

Fuit namque nobis, serenissime imperator, pater nomine Richart et patruelis nomine Richolf, ambo Saxones, et hereditas eorum in ipsa extiterat Saxoma. Dum autem in servitio patris vestri, felicis memoriae domni Caroli imperatoris, extiterunt, propinqui eorum atque pagenses, causa christianitatis furore se super eos turbantes, omnia quae in domibus propriae elaborationis habuerunt, cuncta raptim diripuerunt; eo quod in fide christianitatis velle eos persistere senserunt, et eam negare ullo modo noluerunt. Postea vero contigit, ut domnus imperator patruelem meum Richolf misit in missaticum super Elbam cum his inferius scriptis, id est Rorih comite, Gotesscalc comite, Had comite et Garih; qui omnes una ibidem fuerunt occisi propter christianitatis stabilimentum. Quo audito, perrexit pater meus Richart nuntiare hoc domno imperatori Carolo. Et dum in illa via fuit, adprehensa est ipsa mater mea ab eisdem viris, qui illos praefatos missos antea interfecerunt, et inter manus fideiussorum commendatam reliquerunt; ceteraque omnia, quae ibidem in sumptibus vel aliis quibuslibet rebus reperta sunt, secum per rapinam priserunt. Quod cum compertum fuit patri meo, transivit latenter et eam quasi furtim arripuit; fugitque cum ea in pagum, qui vocatur Marstheim in maternam hereditatem suam. Et sic mansit ibi, donec ex iussione domni imperatoris Saxones, facta transmigratione de Saxonia, per partes educti sunt; et tune etiam temporis cum eisdem pater meus et mater educti fuerunt. Quibus vero eductis et in ipsa transmigratione per quanta qualibet spatia commorantibus, a propria abalienati terra, de hac luce pater meus interveniente extremo die substractus est, et remansit sola mater mea et ego sororque mea; et adhuc Deo miserante nos tres superstites existimus. Non tamen pervenimus ad paternam hereditatem nostram.

Ideoque, piissime imperator, qui omnibus pauperibus, etiam cunctis indigentibus stabile refugium pro Dei amore misericorditer inpendere non cessatis nobis quoque paterna hereditate despoliatis, pro vestra elymosina auxiliari sub hac reclamatione nostra utcumque faciatis, et per fideles vestros idipsum investigare dignemini, utrum iuste ad nos pertinere debeat an non, si tamen apud vestram sanctissimam decretum fuerit excellentiam. Multi enim testes de ipsis pagis super hac ipsa re adhiberi possunt, qui hanc rem bene sciunt et eam detegere veratiter valebunt, o clementissime ac serenissime imperator.

Eigene Übersetzung unter Benutzung von E. Mühlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern (benutzte Ausgabe: Phaidon, Akad. Verlagsanstalt, Bd. 1, 1984) S. 199f.

Es beginnt der Bittbrief.
Euren frömmsten Ohren, gütigster und ruhmreicher Kaiser, versuche ich nicht aus kecker Anmaßung, sondern wegen meiner großen Not mitzuteilen, wie mir Sünder und meiner Schwester das väterliche Erbe zunächst verweigert wurde und bis heute vorenthalten wird. Und deshalb, frömmster Kaiser und barmherzigster Helfer aller Notleidenden, benötigen wir in vieler Hinsicht Eure Schirmherrschaft, damit ich durch Euer Erbarmen und eure Wohltätigkeit an eben diese Erbschaft kommen kann; denn auf andere Weise kann sie uns nicht erstattet werden, es sei denn durch Eure höchst geneigte und immer wohlwollende Güte gerechten Handelns. Und da das so ist, mein Herr, möge sich Eure Erhabenheit herablassen, die Klage unserer Not anzuhören.
Unser Vater hieß Richart, unser Onkel Richolf, beide waren Sachsen und ihr Erbe lag im Sachsenland. Während sie aber im Dienst Eures Vaters, des Herrn Kaisers Karl seligen Angedenkens, standen, plünderten ihre Verwandten und Gaugenossen, des Christentums wegen über sie erbost, räuberisch alles, was sie in ihren Häusern an erworbenem Gut hatten, weil sie sahen, daß dieselben am christlichen Glauben festhalten und ihn keinesfalls verleugnen wollten. Dann geschah es, daß der Herr Kaiser meinen Onkel Richolf als Königsboten über die Elbe schickte mit den Nachbenannten, nämlich Graf Rorich, Graf Gotescalc, Graf Had und Garich, die alle zusammen dort wegen der Festigung des Christentums getötet wurden (798). Als er das gehört hatte, eilte mein Vater Richart, dies dem Herrn Kaiser Karl zu berichten. Und während er unterwegs war, wurde meine Mutter von den Männern, welche die vorgenannten Königsboten früher getötet hatten, ergriffen und gegen Bürgschaft in Verwahrung gegeben. Alles übrige, was an Wertsachen und irgend anderen Dingen vorgefunden wurde, nahmen sie als Beute mit sich. Als dies mein Vater erfahren hatte, schlich er heimlich zurück und wie ein Dieb befreite er sie; und er floh mit ihr in den Gau, der Marstheim (zwischen Leine und Süntel) heißt, auf das mütterliche Erbe. Und so blieb er hier, bis auf Befehl des Herrn Kaisers die Sachsen, als die Auswanderung aus dem Land erfolgte (804), partienweise weggeführt wurden. Und damals wurde mit ihnen auch mein Vater und meine Mutter weggeführt. Als sie nach ihrer Wegführung so lange, weggerissen von ihrem eigenen Boden, in der Verbannung lebten, starb mein Vater. Und es blieb nur meine Mutter übrig und ich und meine Schwester. Und noch leben wir drei durch Gottes Erbarmung, aber zu unserem väterlichen Erbe sind wir nicht gekommen. Deshalb, frömmster Kaiser, der Ihr allen Armen und auch sämtlichen Hilfsbedürftigen um Gottes willen eine ständige Zuflucht gnädig zu bieten nicht zögert, laßt auch uns, den des väterlichen Erbes Beraubten, um Eures Seelenheiles willen auf diese Bitte hin eine Hilfe angedeihen und geruht, durch Eure Getreuen wenigstens das, ob es mit Recht uns gehören soll oder nicht, feststellen zu lassen, wenn es Eurer heiligsten Hoheit nur genehm ist. Denn noch können viele Zeugen aus jenen Gauen über diese Sache vernommen werden, welche davon wissen und imstande sein werden, die Wahrheit ans Licht zu bringen, o mildester und erlauchtester Kaiser".