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Jared Diamond
Verfallsdatum
Die Wikinger waren ein stolzes Volk, das die Inuit verachtete.
Die Wikinger starben aus, die Inuit überlebten. Jared Diamonds Buch "Kollaps" fragt, warum Kulturen untergehen – und ob sie es hätten vermeiden können.


Jared Diamond: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005.

Rezensiert von Jens Reich

 

 

 

Erzählungen vom Aufstieg und Niedergang von König- und Weltreichen haben die Menschen zu allen Zeiten fasziniert. Langsames Altern und Sterben oder dramatischer Untergang in einer Katastrophe waren feste Erzählmuster, mit der festen Rede von Vitalität und Dekadenz, Überfällen durch fremde Heere, Klassenkonflikten, Herrscherwillkür. Und natürlich auch von ökologischen Krisen, durch Klimaveränderungen, versiegende Wasservorräte, Erosion des fruchtbaren Bodens oder chronische Vergiftung – manche Beobachter glauben, dass die Bleivergiftung aus Wasserrohren die oströmische Zivilisation niedergehen ließ. Jared Diamonds neues Buch gehört in diese Erzähltradition. Der Titel "Kollaps". Warum Gesellschaften überleben oder untergehen" betont zwei Aspekte stärker als in vielen anderen Erzählungen: Ihn interessiert der Zusammenfall aus innerer Ursache mehr als Zerstörung von außen, wobei letztere allerdings die ersteren ergänzt und auslöst. Und er sieht den Untergang nicht nachträglich als unausweichliche Notwendigkeit, sondern möchte herausfinden, ob er vermeidbar war.

Hierzu hat er die Verfallsgeschichte einer Reihe von Gesellschaften parallel untersucht. Und hat Beispiele gesammelt, in denen zu sehr verschiedenen Zeiten und Herausforderungen der Untergang durch eine energische Gegenanstrengung aufgehalten werden konnte – zum Beispiel in Neuguinea, Japan, den Niederlanden. Besonders aufschlussreich ist seine Gegenüberstellung von zwei Staaten auf der einen Karibikinsel Hispaniola, deren Bevölkerungen mit ganz ähnlichen geografischen und ökologischen Herausforderungen konfrontiert sind, und die doch eine sehr verschiedene Entwicklung durchgemacht haben. Das eine Land, die Dominikanische Republik, steht relativ günstig da – das andere jedoch, Haiti, ist zum ärmsten Elendshof der Welt geworden.

Diamond analysiert das Schicksal einer größeren Zahl von historischen und gegenwärtigen Gesellschaften mit einem Instrumentarium von fünf Variablen, die er in unterschiedlichem Maße wirksam sieht: Umweltstress, globale Klimaveränderungen, wie die kleine Eiszeit am Ende des Mittelalters, gesellschaftlicher Druck durch feindliche Nachbarn (etwa die Zermürbung des Oströmischen Reichs durch die "Barbaren"), versagende Handels- und Kulturverflechtungen – und schließlich die adäquate oder inadäquate Reaktion einer Gesellschaft auf eine Bedrohung. Diese untersucht er in den Kategorien von "Werten", die entweder verteidigt oder aufgegeben, angepasst oder starr beibehalten wurden.

Der Kollaps der Wikingersiedlungen im zeitweilig gemäßigt warmen Grönland – im Unterschied zu den überlebenden Inuit (Eskimos) in der gleichen Region – ist für Diamond ein besonders ertragreiches Vergleichsspiel: Die Wikinger vermochten ihre Lebensweise und ethischen Wertvorstellungen nicht an die Herausforderung der einsetzenden Kältezeit anzupassen. Sie verachteten die "primitiven" Sitten der Inuit, die denen das Überleben ermöglichten, während sie selbst in stolzer Starrheit über viele Jahrzehnte dahinsiechten und schließlich ausstarben.

Es ist die ausgeprägt interdisziplinäre Methodik, die ebenso naturwissenschaftliche Analyse- wie geisteswissenschaftliche Betrachtungsweisen beizieht, und dabei die unprätentiöse Erzählsprache, die die Arbeit mit Diamonds Buch anziehend machen. Hinzu kommt, dass Darstellungs- und Sichtweise sich erfrischend ablösen von der ökologischen Literatur der letzten Jahrzehnte, die mittlerweile zu datenüberfrachteten und alarmistisch aufgeladenen Klischeeanhäufungen verkommen ist. Das Kapitel "Schatten über der Osterinsel" etwa ist eine ergreifende Schilderung des trostlosen, langsamen Niederganges der Osterinsel-Zivilisation. Er konnte durch umfangreiche archäologische Feldarbeit und physikalisch-chemische Analyse der Residuen erforscht werden. Diese Menschen lebten Tausende von Kilometern von jeder anderen Zivilisation entfernt im Pazifischen Ozean. Der Tod dieser Gesellschaft war ein ökologischer Tod, in völliger Isolation, ohne Auswanderung, Fremdüberfall und Vermischung. Auch ohne das Weiterleben als Substrat in einer neuen Gesellschaft. Wie mögen die Menschen diesen Niedergang erlebt haben? Was dachte der Holzfäller, als er den letzten Baum fällte und die Ödnis der Insel vollendete, die einst mit Wäldern gesegnet gewesen war? Da diese Menschen keine entwickelte Schriftlichkeit hatten, sind die rätselhaften Statuen mit den großen Köpfen in ihrer großartigen Monumentalität und Nutzlosigkeit ihr einziges Vermächtnis an uns Heutige. Die Studenten, mit denen ich das Buch behandelt habe, werden in diesem Kapitel stärker emotional ergriffen als durch alle Statistikkolonnen der üblichen Schriften zum drohenden Kollaps unserer globalen Gesellschaft. So wie die Osterinsulaner in völliger Einsamkeit lebten, nur vom unendlichen Meer umgeben, so leben wir modernen Menschen, in millionenfach größerer Anzahl, und doch in ähnlicher Singularität auf dem Planeten, auf dem wir durch den leeren Weltraum reisen. Wird auch eines Tages jemand von uns den "letzten Baum fällen", oder werden wir es schaffen, dem Kollaps durch eine "Umwertung der Werte" zu entkommen – wie es anderen, glücklicheren Zivilisationen gelungen ist, von denen Diamond in anderen Kapiteln erzählt?


© KULTURAUSTAUSCH 1/2006

 

Kulturaustausch 1/2006

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Zur Person
Jens Reich ist Professor für Bioinformatik am Max-Delbrück-Centrum in Berlin

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