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Vom Sinn der Krankheiten

Evolutionstheorie als Hilfe für die Medizin

Von Peter Markl

W er in diesen Tagen sich selbst reduziert sieht auf einen Kampf gegen eine ewig rinnende Nase und quälenden Husten, dem wird es nur wenig Trost bringen, wenn er
hört, daß · biologisch gesehen · diese Lästigkeiten ihren guten Sinn haben: sie sind die Kehrseite von Verteidigungsmechanismen, mit denen die Evolution Menschen für ihren Kampf mit Mikroorganismen
gerüstet hat. Ähnliches gilt für eine ganze Reihe von Krankheitserscheinungen, die alle Begleiterscheinungen von Mechanismen sind, mit denen sich im Lauf der Evolution Menschen an Bedrohungen
adaptiert haben · zumindest in diesem evolutionären Kontext hat diese Form von Leiden „Sinn".

George C. Williams, einer der führenden Evolutionstheoretiker, hat diese Sichtweise der Evolution von Krankheiten „Darwinsche Medizin" getauft. Erklärungen durch Adaptation im Lauf der Evolution sind
natürlich auch auf diesem Gebiet verführerisch leicht auszudenken · verführerisch, weil Krankheit dann oft wenigstens biologisch „sinnvoll" erscheint und leicht, weil man nur zu versucht ist, ad hoc
Geschichten zu erfinden, in denen Problemsituationen ausgemalt werden, für die eine bestimmte Adaptation die Lösung sein könnte, selbst wenn sie als Begleiterscheinung auch Nachteile bringt.

Auch mit Hilfe der „Darwinschen Medizin" kann man nicht in jeder Krankheit „Sinn" erkennen · und sei es auch nur biologischer „Sinn". Aber sie hilft bei der Suche nach neuen Hypothesen für die
medizinische Forschung und führt immer wieder auch zu einem anderen Umgang mit Krankheiten. George C. Williams schrieb dazu kürzlich im Novemberheft des „Scientific American": „Heute versucht man
in der medizinischen Forschung meist die Ursachen einer individuellen Erkrankung zu erklären und daraus Therapien abzuleiten, mit denen man die Erkrankung heilen oder ihre Folgen erträglicher machen
kann. Dabei geht man herkömmlicherweise von den unmittelbaren Ursachen aus, wie sie sich aus der direkten Untersuchung der heutigen anatomischen und physiologischen Körpermechanismen ergeben. Im
Gegensatz dazu fragt die Darwinsche Medizin danach, wie sich der Körper im Lauf der Evolutionsgeschichte so entwickelt hat, daß er anfällig ist für Krankheiten wie Krebs, Arteriosklerose oder
Depressionen. Diese Sichtweise erweitert den Kontext, in dem medizinisch geforscht wird".

Vorteil und Last des

biologischen Erbes

Daß auch die neue Sichtweise begrenzt ist und nicht alles zu erklären vermag, ist in der Zwischenzeit klar geworden. Im Gegenteil: es sind nur erstaunlich wenige körperliche Gebrechen, auf die sie
neues Licht wirft. Da ist einmal eine Gruppe von unangenehmen Körperzuständen, von denen man weder sagen kann, daß sie Krankheiten sind oder daß sie körperliche Fehlleistungen wären: sie alle · und
dazu gehören Schmerzen, Fieber, Husten, Erbrechen und Angstzustände · sind einfach Abwehrmechanismen des Körpers.

Eine zweite Gruppe ist die Folge der Evolution von Strategien zur Bewältigung von Konflikten mit anderen Organismen · von Bakterien bis zu Wölfen. Die dritte Gruppe besteht aus Krankheiten, die
sozusagen die Kosten adaptiver evolutionärer Kompromisse sind. Das Paradebeispiel dafür ist die Sichelzell-Anämie, an der alle leiden, deren Bauanleitung zum Bau des Hämoglobins durch eine bestimmte
Mutation verändert wurde. Das nach der abgewandelten Bauanleitung synthetisierte Hämoglobin ist überall dort von Vorteil, wo es Malaria gibt, weil es gegen diese Krankheit ein bestimmtes Ausmaß an
Schutz bietet.

Die letzte Gruppe von Defekten kann als Folge von nicht optimalen Adaptationen erklärt werden · Adaptationen, die sich im Lauf der Evolution unter einschränkenden Randbedingungen entwickelt haben.
Sie sind die Kosten dafür, daß die Evolution bei der Lösung von Problemen nicht von Null anfangen kann, sondern · wie es Francois Jacob so plastisch beschrieben hat · gezwungen ist, wie ein Bastler
vorzugehen, der von dem ausgehen muß, was gerade vorliegt. Der blinde Fleck im Auge ist dafür ein Beispiel.

Der biologische Sinn von Adaptationserscheinungen wird nirgends klarer als bei den seltenen Menschen, bei denen sie ausfallen. Es gibt Menschen, die keinen Schmerz spüren und es nicht einmal als
unangenehm empfinden, wenn sie lange in einer Körperstellung ausharren. Die unnatürliche Bewegungslosigkeit führt dazu, daß ihre Gelenke schlecht mit Blut versorgt und dadurch geschädigt werden. Auch
heute sterben diese Patienten häufig noch sehr jung an Gewebsschäden und Infektionen.

Die Frage, ob eine bestimmte Reaktion auf eine Bedrohung eine hilfreiche Adaptation oder nur die unangenehme Folge einer ganz anderen Reaktion des Körpers ist, muß selbst bei Erscheinungen geprüft
werden, für deren Entstehung sich relativ leicht adaptive Geschichten ausdenken lassen.

Fieber ist dafür ein gutes Beispiel. Man hat zeigen können, daß Fieber wahrscheinlich nicht einfach das Nebenprodukt einer erhöhten Stoffwechselgeschwindigkeit ist, sondern eine adaptive Reaktion,
die man selbst bei kaltblütigen Reptilien schon findet. Eidechsen, die eine Infektion durchmachen, wandern zu wärmeren Plätzen und bleiben dort, bis ihre Körpertemperatur um einige Grad höher liegt
als normal. Die Eidechsen, die man daran hindert, die wärmeren Plätze aufzusuchen, sterben häufiger an ihren Infektionen.

Empfindliche Warnsysteme

Fieber scheint also eine adaptive Reaktion zu sein: bei Warmblütern wird die Temperatur des Körperthermostaten hochgedreht, um die Zerstörung pathogener Eindringlinge zu erleichtern. Der Einsatz
von fiebersenkenden Mitteln durch den Arzt wird damit zu einer viel schwierigeren Abschätzung von relativen Kosten und Risken.

Viele unangenehmere Körperzustände verdanken ihre Häufigkeit der Tatsache, daß das Warnsystem des Körpers eine sehr niedrige Ansprechschwelle hat · wenn die Kosten der Gegenreaktion gegen eine
Bedrohung nicht hoch sind, ist es viel günstiger, einmal zu oft zu reagieren, als einmal zu wenig. Eine evolutionäre Anpassung kann zu einer solchen Optimierung führen, aber die Vermutung, daß eine
solche Anpassung vorliegt, muß wiederum erst geprüft werden.

Bei einem Symptom steht der entscheidende Beleg für eine evolutionäre Anpassung noch aus, obwohl es häufig als Beispiel für eine evolutionäre Anpassung angeführt wird: der morgendlichen Übelkeit
während einer Schwangerschaft.

Ist das ein sinnloser Nebeneffekt der Schwangerschaft oder eine adaptive Defensivreaktion? Ist es nur ein Zufall, daß sie besonders häufig in der Zeit auftritt, in der ein Fetus die ersten Zellen
differenzierter Gewebe bildet und damit für eine Schädigung durch Toxine besonders anfällig ist? Die morgendliche Übelkeit führt dazu, daß Schwangere stark schmeckende Speisen eher meiden.

Margie Profit hat erkannt, daß diese adaptive Vermutung empirisch prüfbar ist: wenn es sich wirklich um einen Defensivmechanismus handelt, dann sollten Frauen, welche sich morgens häufiger nicht gut
fühlen, weniger Fehlgeburten haben als andere und weniger häufig Babys mit Geburtsfehlern gebären. Bisher hat man jedoch nur zeigen können, daß es wirklich etwas weniger Fehlgeburten gibt, aber der
Effekt war statistisch nicht überzeugend und eine Untersuchung der Geburtsfehler, die eigentlich häufiger sein sollten, steht noch aus. Und das gilt auch für etwas, das ein besonders überzeugender
Beleg für einen evolutionären Ursprung der morgendlichen Übelkeit wäre: der Nachweis, daß auch schwangere Weibchen anderer Spezies ihre Ernährungsgewohnheiten ändern.

Medizinisch fruchtbare

Vermutungen

Die Fruchtbarkeit der evolutionären Sicht medizinischer Probleme wird zur Zeit noch unterschätzt. Das betrifft nicht nur Probleme im Umgang mit Infektionskrankheiten, bei denen es sich ja um eine
Co-Evolution der Parasiten mit ihren Wirten handelt und evolutionäre Zusammenhänge daher offensichtlich relevant sind, sondern auch beunruhigende Entwicklungen, bei denen die evolutionäre Ursache
viel weniger auf der Hand liegt.

Ein Beispiel dafür ist das anscheinend erst vor nicht zu langer Zeit einsetzende Ansteigen der Häufigkeit von Brustkrebs in westlichen Industriegesellschaften. Als Ursache dafür wird zur Zeit eine
ganze Reihe von möglichen Ursachen diskutiert · unter anderen zum Beispiel eine Exposition mit „Umweltöstrogenen" in der Nahrung · ein Thema, das weit davon entfernt ist, soweit geklärt zu sein, daß
ein auch nur vorläufiges Urteil möglich wäre.

Einer anderen Erklärung gehen Boyd Eaton und seine Kollegen von der Emory Universität nach: auch sie vermuten, daß dieser Anstieg mit dem Hormonstatus von Frauen zusammenhängt und suchen die Ursache
in den Änderungen in der Lebensweise von Frauen, die in modernen Gesellschaften leben, obwohl sie die Evolution nur an ein Leben in urzeitlichen Jäger-Sammler-Gesellschaften angepaßt hat. In solchen
primitiven Gesellschaften wurden Mädchen mit etwa 15 Jahren geschlechtsreif und bald darauf schwanger. Was darauf folgte waren zwei oder drei Jahre Stillen, auf die meist wieder eine weitere
Schwangerschaft folgte. Nur in der Zeit zwischen dem Abstillen und der nächsten Schwangerschaft lebten die Frauen mit normalen Menstruationszyklen und damit auch dem hohen Hormonspiegel, der sich auf
hormonsensitive Zellen in der menschlichen Brust nachteilig auswirken kann.

Dazu George Williams: „Im Gegensatz dazu werden Mädchen in modernen Gesellschaften mit 12 oder 13 Jahren geschlechtsreif · vielleicht zum Teil deshalb, weil heute selbst sehr junge Mädchen bereits
so viel Fett angesammelt haben, daß sie einen Fetus ernähren könnten · und sie werden dann erst Jahrzehnte später oder vielleicht nie schwanger. Eine Frau, die in einer Jäger-Sammler-Gesellschaft
lebte, erlebte insgesamt vielleicht 150 Menstruationszyklen, während es bei einer Frau in einer modernen Gesellschaft 400 oder mehr Zyklen sind. Natürlich wird es nur wenige Leute geben, die
vorschlagen würden, daß junge Frauen schon als Teenager schwanger werden sollten, weil das später ihr Krebsrisiko vermindert, aber es könnte doch sein, daß eine frühe Hormonzufuhr, welche eine
Schwangerschaft simuliert, dieselbe Wirkung hat. An der Universität von Kalifornien laufen zur Zeit Versuche, diese Vermutung zu testen".

Fahndung nach adaptiven

Kompromissen

George C. Williams sieht die Evolutionstheorie auf dem Weg, auch in der Medizin als grundlegende Wissenschaft Boden zu gewinnen: „Trotz der Erklärungskraft des Darwinschen Paradigmas wird die
Evolutionsbiologie erst jetzt als eine auch für die Medizin grundlegende Theorie anerkannt. Die meisten Krankheiten verringern die Fitneß, so daß man den Eindruck haben könnte, daß die natürliche
Selektion bestenfalls die Gesundheit und nicht Krankheiten erklären kann. Ein Herangehen à la Darwin ist nur dann sinnvoll, wenn man nicht Krankheiten zu erklären versucht, sondern die Merkmale,
welche uns für eine Krankheit anfällig machen. Und auch die Annahme, daß die natürliche Selektion die Gesundheit maximiert, stimmt nicht · die Selektion maximiert den Fortpflanzungserfolg der Gene.
Gene, die dem Körper einen überlegenen Fortpflanzungserfolg verschaffen, werden in einer Population immer häufiger werden, auch wenn das auf Kosten eines Kompromisses mit der Gesundheit von Einzelnen
geht."

Erst eine Betrachtung unter evolutionärem Aspekt läßt solche Kompromisse erkennen. Sie kann zu neuen Strategien im Umgang mit Krankheiten führen, die aus solchen Kompromissen folgen.

Freitag, 20. November 1998

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