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Neun mal Wilhelm Paret: als Fotograf, Schüler, Student, Astronom, im Arbeitszimmer und als Bienenzüchter.


Parets Fotos von "Zigeunern": fremdartig gewandet, zogen sie in Planwagen übers Land und machten Musik.


Aufnahmen aus seiner ersten Tübinger Zeit als Student ab 1884: Hölderlinturm, Stift, Studentenbude. Dann aus seiner Zeit als Ruheständler ab 1925 in Derendingen: Umzugswagen beim "Abschied aus Wittendorf", Zigeuner mit Bär, Arbeitszimmer, Neckarfront, Paretsche Küche.


Ein Pfarrer dokumentiert das Landleben um die Jahrhundertwende

Mitten im Schwarzwald in dem etwas abgelegenen Ort Wittendorf (bei Lossburg) wird derzeit eine bemerkenswerte Ausstellung gezeigt: das fotografische Werk von Wilhelm Paret. Paret war dort von 1894 bis 1924 Pfarrer. Drei Jahrzehnte lang hat er das Leben in dem kleinen Schwarzwalddorf auf Fotoplatten gebannt. Wahrscheinlich ist kaum ein zweites Dorf im deutschen Südwesten so gut dokumentiert. Seinen Ruhestand verbrachte er anschließend in Derendingen, weshalb die Ausstellung auch viele Bezüge nach Tübingen aufweist.

Wilhelm Paret wurde 1864 in Möckmühl als Pfarrerssohn geboren. Sowohl er als auch seine beiden älteren Brüder folgten dem Vater in der Berufswahl nach und wandten sich ebenfalls der Theologie zu. 1884 im Alter von 20 Jahren schickte man Wilhelm zur Ausbildung ins Evangelische Stift nach Tübingen. Doch Latein und Griechisch waren nicht seine Stärke. Stattdessen brillierte er in Geometrie und Arithmetik. Vermutlich hätte man den Jungen besser etwas anderes studieren lassen sollen, denn seine Zuneigung galt mehr der Technik.

Schon während der Tübinger Studienzeit war der junge Paret ein leidenschaftlicher Fotograf. Es entstanden eine Reihe von bemerkenswerten Aufnahmen, darunter eine ungewöhnliche Ansicht des Hölderlinturms mit Badehäuschen. Der Neckar ist noch unkorrigiert und strömt direkt auf den Betrachter zu. Paret hatte seine Kamera offenbar auf einer Kiesbank im Flussbett postiert. Die alte Neckarbrücke mit ihrem weit gespannten Bogen bildet den natürlichen Rahmen für die Szenerie.

Auch eine weitere Aufnahme - etwas neckaraufwärts entstanden - muss ihn stundenlang beschäftigt haben. Paret belichtete eine Platte mit seinem Studienort dem Evangelischen Stift. Den Abzug kolorierte er mit zarten Farben bis in die letzten Details.

Weitere Fotos zeigen vermutlich sein Studentenzimmer. Sie wurden mit beträchtlichem Aufwand "in Szene gesetzt". Eines trägt den Untertitel "Sonntagmorgen" und dürfte wohl die Situation nach einer durchzechten Nacht zum Thema haben.

Nach dem Studium in Tübingen folgten das Referendariat in Vaihingen/Enz sowie das Vikariat in Gnadental bei Schwäbisch Hall. 1889 verheiratete sich Paret mit der Tübinger Uhrmacherstochter Maria Müller. Der Ehe waren fünf Kinder beschieden: Elisabeth, Lore und Rudi lebten später in Tübingen und starben hier 1979 und 1978 und 1983. Die beiden älteren Brüder Karl und Alfred dagegen fielen schon im ersten Weltkrieg.

1894 erhielt Wilhelm Paret seine erste Pfarrstelle in Wittendorf. Sie ließ ihm offenbar genügend Zeit, seinem Hobby als Fotograf ausgiebig zu frönen. Anders als die Profis jener Tage scheute er keine Mühe, den Alltag seiner Mitmenschen zu dokumentieren. Er fotografierte die Dorfbewohner nicht nur im Sonntagsstaat sondern auch bei der Arbeit. Er bannte sie unterschiedslos auf seine Platten: ob reiche Bauern oder arme Taglöhner, ob Flößer, Handwerker oder Amtspersonen. Er dokumentierte alle wichtigen Ereignisse in seiner kleinen Welt: Konfirmation, Erntedank, die Beerdigung des Bürgermeisters, den Bau eines neuen Hauses, das erste Auto, das durchs Dorf fuhr, sowie die Abnahme der Kirchenglocken, die im Ersten Weltkrieg zur Waffenproduktion eingeschmolzen wurden.

Ein besonderes Interesse aber entwickelte er für die durchziehenden Zigeuner, meist fröhliche Menschen, gelegentlich aber auch mit melancholischen Gesichtern. Sie waren fremdartig bunt gewandet, zogen in Planwagen übers Land und machten Musik. Er begegnete ihnen unvoreingenommen und fotografierte sie fast liebevoll.

Manche Dorfbewohner beobachteten den fotografierenden Pfarrer mit wachsendem Misstrauen. Sie warfen ihm vor, dass er über seinem Hobby die Seelsorge vernachlässige. In einer Eingabe forderten sie schließlich sogar seine Absetzung, weil er "Sonntag mittags Zigeuner fotografiert".

Paret war die ständigen Angriffe schließlich leid und ließ sich mit 60 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. Im März 1925 zog er nach Derendingen. Dort war am Ortsrand eine kleine Siedlung im Enstehen begriffen, die die Alteingesessenen wegen ihrer abgelegenen und ungeschützten Lage als "Nordpol" bezeichneten. Pfarrer Paret bezog dort das Haus Windfeldstraße 6 und frönte weitere 14 Jahre seinen technischen Hobbys. Meist sah sein Studierzimmer aus wie das eines Naturwissenschaftlers. Er betrieb die Astronomie, reparierte Uhren und züchtete Bienen.

Alte Derendinger erinnern sich noch heute an den betriebsamen Pfarrer im Ruhestand, der immer noch viel fotografierte und seine Bilder in der Nachbarschaft verschenkte. Sein Gartentörchen hatte er mit einem elektrischen Mechanismus versehen. Wenn man das Törchen öffnete, klingelte es im Hause, so dass gebetene oder ungebetene Besucher rechtzeitig bemerkt wurden. Die Nachbarskinder, die das Paretsche Alarmsystem kannten, spielten dem Pfarrer gelegentlich einen Streich und legten ein Holzscheit in die Tür, was umgehend zum Daueralarm führte.

Seit der Heirat führte Wilhelm Paret ein Gästebuch. Das besondere daran: fast alle Besucher wurden abgelichtet und die Bilder eingeklebt. Beim Blättern entdeckt man so manches bekannte Tübinger Gesicht. So etwa den jüdischen Religionslehrer und Kantor Joseph Wochenmark und dessen Söhne Alfred und Arnold, die im September 1930 zu Besuch in der Windfeldstraße waren. Wochenmark nahm sich 1943 das Leben. Er kam damit der bevorstehenden Deportation zuvor. Sohn Arnold dagegen konnte noch rechtzeitig emigrieren. Er lebt heute hochbetagt bei San Francisco.

Pfarrer Paret starb 1938 in Derendingen. Sein fotografisches Werk, bestehend aus ein paar tausend Aufnahmen, verblieb zunächst bei den beiden Töchtern in der Windfeldstraße geriet seither aber weitgehend in Vergessenheit. Vermutlich um 1960 wurden die Fotografien auf Tubingensien hin durchgesehen. Etwa 180 Glasplatten und eine Reihe von Abzügen gelangten damals in den Besitz der Stadt Tübingen. Heute befinden sie sich in der Fotosammlung des Stadtarchivs.

Seit etwa zehn Jahren bemüht sich Bernd Stöffler in Stuttgart um den Paret-Nachlass, der inzwischen in alle Welt zerstreut ist. Stöffler stammt selbst aus Wittendorf. Eher zufällig stieß er auf die Bilder des fotografierenden Pfarrers. Seither hat in dieses Thema nicht mehr losgelassen. Mittlerweile hat er aus verschiedenen Quellen mehr als 1500 Fotografien zusammen gesammelt. Etwa 300 davon präsentiert er derzeit in der Wittendorfer Ausstellung, die noch bis zum 5. August 2001 im dortigen Kornspeicher zu sehen ist, allerdings nur samstags und sonntags, jeweils von 14 bis 17 Uhr.

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Bericht: Udo Rauch
Fotos: Wilhelm Paret (Sammlung Bernd Stöffler und Stadtarchiv Tübingen)


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