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Biographisches Lexikon für Ostfriesland
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GNAPHEUS (de VOLDER, van de VOLDERSGRAFT, FULLONIUS), Willem

geb. ca. 1493 's-Gravenhage
gest. 29.9.1568 Norden
ref
Gelehrter, Rektor

Gnapheus entstammt einer relativ wohlhabenden bürgerlichen Familie. Nach einer frühen Erziehung möglicherweise durch die Brüder vom Gemeinsamen Leben immatrikulierte er sich 1511 an der Universität Köln. Etwa um 1520 wurde er zum Rektor der Lateinschule in Den Haag ernannt, wo er bald von der entstehenden protestantischen Bewegung berührt wurde. Zusammen mit seinem Freund Cornelis Hoen erstmals 1523 verhaftet, wurde Gnapheus diesmal noch freigelassen, aber die Verbreitung weiterer häretischer Schriften führte zu seiner erneuten Festnahme. Im Gefängnis übernahm er Aufzeichnungen von Jan de Bakker (Pistorius), des ersten protestantischen Märtyrers Hollands, nach deren Überarbeitung er später "Een suverlicke ende seer schoone disputacie" publizierte. Sein Gefängnisaufenthalt gab ihm auch Gelegenheit zur Abfassung des Werkes, das später sein einflußreichstes werden sollte: "Een Troost ende spiegel der siecken", eine scharfe anti-römische Polemik, die den Einfluß sowohl seiner frühen erasmischen Schulung verrät wie auch der Abendmahlsauffassung von Hoen. Erneute Bedrängung durch die kirchlichen Autoritäten 1528 überzeugten Gnapheus schließlich von der Notwendigkeit, die Niederlande zu verlassen.Er ließ sich zunächst in Elbing nieder, wo er zum Rektor ernannt wurde. Aber nach sechs Jahren hier und einem durch Streit geprägten Aufenthalt in Königsberg fand er seine endgültige Zuflucht in Ostfriesland. Von Gräfin Anna zum Erzieher ihrer drei Söhne berufen, wurde Gnapheus bald zur einflußreichen Figur für die kirchlichen und politischen Dinge. In den folgenden Jahren leistete er dem Herrscherhaus zahlreiche Dienste, verhandelte mit den Emder Behörden wegen Rückgabe von durch Seeräuber geraubten Gütern, wirkte mit bei der Enteignung verbliebenen kirchlichen Hausbesitzes in Norden und Emden und der Überführung von dessen Einkünften für weltliche Zwecke. Mit seinen vielfältigen Beziehungen spielte Gnapheus auch eine wichtige Vermittlerrolle in den Verhandlungen, die zur Heirat Graf Edzards mit der schwedischen Königstochter Katharina führten. Es war daher auch nicht überraschend, daß er ausgewählt wurde, als einer von drei Beauftragten 1562 die englische Königin Elisabeth von Emdens Vorzügen als Alternative zum Tuchmarkt Antwerpens zu überzeugen. Durch diese vielfältigen Dienste der Gunst der Gräfin versichert, konnte Gnapheus eine wohlhabende Existenz aufbauen, die sich einmal auf die Einkünfte aus offiziellen Aufträgen und dann auch auf eine florierende Notariatspraxis stützte.Im relativ sicheren Ostfriesland nahm Gnapheus seine literarischen Aktivitäten wieder auf und veröffentlichte Neuausgaben seiner Darstellung von Pistorius' Untersuchung und vom "Troost ende spiegel der siecken", letzteres unter dem neuen Titel "Tobias ende Lazarus". Signifikante Änderungen am Text dieses Buches zeigen, daß Gnapheus nun eine ausgeprägtere reformierte Theologie vertrat, eine Entwicklung, die ebenfalls durch seine Publikation 1562 einer niederländischen Übersetzung von Bullingers "Summa Christlicker Religion" (1556) nahegelegt wird. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung des am meisten literarischen von Gnapheus' späteren Werken, seines "Encomion" Emdens und Ostfrieslands, geschrieben 1553 und gedruckt 1557. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Gnapheus zurückgezogen in Norden, wo er 1568 starb.Durch seine lange Karriere in den Niederlanden und im Exil war Gnapheus eine nahezu einzigartige Figur, die die beiden Phasen der niederländischen Reformation umspannte: die frühe Periode der evangelischen Debatte, die durch das Exil von Gnapheus und seinen Freunden beendet wurde, und die Herausbildung konfessioneller Klarheit in den Emigrantengemeinden. Seine Bildung und seine lange Amtstätigkeit sichern Gnapheus einen besonderen Platz sowohl in der ostfriesischen Geschichte des 16. Jahrhunderts wie in der zeitgenössischen evangelischen Gelehrsamkeit in den Niederlanden.WerkeEen suverlicke ende seer schone disputacie, o.O. 1526/29 [Neuausgabe Emden 1556]; Een troost ende spiegel der siecken, o.O. 1531 [Neuausgabe unter dem Titel: Tobias ende Lazarus, Emden 1557. Moderne Edition in: Bibliotheca Reformatoria Neerlandica, Band 1]; Acolastus, Antwerpen 1529; Antilogia, 1551; Aembdanae Civitatis Encomion, Emden 1557.LiteraturADB 9, S. 279-280 (B a b u c k e); NDB 6, Sp. 482-483 (Rolf T a r o t); BA Benelux; NNBW 3, Sp. 471-472 (L i n d e b o o m); Biografisch Woordenboek van Protestantische Godgeleerden in Nederland; BBKL 2, Sp. 256-257; H. B a b u c k e, Wilhelm Gnapheus, ein Lehrer aus dem Reformationszeitalter, Emden 1875.

 
Andrew Pettegree