http://www.uni-jena.de/ms/hyper.html
Online-Version eins Vortrags auf der Tagung: "Synergie durch Netze. Anwendungen von Informations- und
Kommunikationstechnologien für Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung in
Sachsen-Anhalt", 5.-6. Okt. 1995
, Friedrich-Schiller-Universität Jena
INTERAKTIVITÄT UND HYPERTEXTUALITÄT
IM WORLD WIDE WEB
Teil 1: Raum, Zeit und Identität im Internet
Teil 2: Interaktivitaet im World Wide Web
Teil 3: Hypertextualitaet im World Wide Web
Eine medienphilosophische Analyse des Internet
Meine Überlegungen gliedern sich in drei Teile. Im ersten Teil werden die
grundlegenden Veränderungen herausgearbeitet, die sich durch das Internet für unser
Verständnis von Raum, Zeit und Identität ergeben. Im zweiten und dritten
Teil befasse ich mich mit den medienphilosophischen Implikationen der beiden wichtigsten innovativen
Grundzüge des World Wide Web: der Interaktivität und der Hypertextualität.
Teil 1: Raum, Zeit und Identität im Internet
Das Netz erschließt uns eine neue Welt - und zwar mehr noch und anders als das Auto oder das Flugzeug.
Wenn wir von Berlin nach San Francisco fliegen, kommen wir zwar auch in einer anderen Welt an, in der zum Teil
andere Gesetze herrschen. Aber die Grundkoordinaten unseres Wirklichkeitsverständnisses - Raum, Zeit,
Identität - bleiben unverändert. Wenn wir das 'reale' Leben verlassen und uns ins Netz begegeben, ist
das anders. Die Welt wird 'virtuell'. Die Verfassung der Wirklichkeit wird eine andere. An die Stelle des 'real life'
tritt die 'virtual reality'.
Wie wirkt sich die virtuelle Wirklichkeit des Cyberspace auf unser Konzept von Identität aus? (1)
Zunächst scheinbar überhaupt nicht. Denn auch im Netz bin ich im Regelfall mit meiner guten, alten
Normalidentität, d.h. als Wissenschaftler Mike Sandbothe unterwegs. Ich besorge mir bibliographische
Angaben aus der Library of Congress in Washington, leiste Diskussionsbeiträge zu den philosophischen
Mailinglisten, die ich subskribiert habe, oder konferiere per e-mail, talk oder Internet Relay Chat mit Kollegen in
aller Welt. Zugleich aber habe ich im Netz die Möglichkeit, mich in die anonymen Channels des IRC oder in
die Phantasie-Environments eines MUD oder MOO zu begeben. Was ist damit gemeint?
IRC ist die Abkürzung für Internet Relay Chat. Das IRC ist eine komplexe Diskussionslandschaft, die
aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gesprächsforen - den Channels - besteht. Hier treffen sich Menschen
aus aller Welt online, um sich unter selbst gewählten Decknamen schriftlich und gleichwohl synchron
miteinander zu unterhalten und die neuesten Informationen zu diversen Themen auszutauschen. Die Themenfelder
reichen vom alltäglichen Netzklatsch und virtuellen Flirt über Diskussionen zu technischen Fragen,
die Hard- und Software betreffen, bis zu mehr oder weniger wissenschafltichen Gesprächen über
Literatur, Politik, Philosophie, Physik, Medizin und andere Disziplinen. Ich selbst nehme an diesen
Gesprächen zumeist unter dem Decknamen "philo" teil, um meine Gesprächspartner von
vornherein darauf vorzubereiten, daß ich sie mit netzphilosophischen Fragen nerven werde. (2)
'MUD' ist die Abkürzung für 'Multi User Dungeon' (wörtlich übersetzt: Viel-Nutzer-
Kerker). Dabei handelt es sich um virtuelle 'Spielhöllen'. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Teilnehmern
loggt sich gleichzeitig in eine fiktionale textbasierte Spiellandschaft ein, um im Kampf mit anderen Teilnehmern
und programmierten Robots sogenannte 'Erfahrungspunkte' zu sammeln und in der Hierarchie des jeweiligen
Spiels zum 'Wizard' oder 'God' aufzusteigen. Zauberer und Götter haben die Macht, die Spiellandschaft zu
verändern und die Problemstellungen zu programmieren, welche die anderen Teilnehmer lösen
müssen.(3)
'MOO' steht für 'Multi User Dungeon Object Oriented' (zu deutsch: objektorientierter Viel-Nutzer-Kerker).
Hierbei handelt es sich im Unterschied zu den streng hierarchisch organisierten und zum Teil recht
gewalttätigen Abenteuer-MUDs um Spiele, in deren Zentrum Kooperation, Solidarität, Bildung und
Wissenschaft stehen. Jeder Teilnehmer erhält von Anfang an Programmierrechte, d.h. er kann Räume
und Objekte kreieren und die Spiellandschaft selbstständig mitgestalten. In den USA werden MOOs bereits
seit einigen Jahren als interaktive Lernumgebungen genutzt, in denen Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler
gemeinsam mit dem neuen Medium Internet spielerisch Erfahrungen sammeln können.(4)
Im IRC, in den MUDs und MOOs kann ich mich als eine je nach Kontext erfundene X- oder Y-Identität
präsentieren. Natürlich könnte ich das "in real life" - oder wie es im Internet-Jargon
abgekürzt heißt: IRL (In Real
Life) - auch in irgendeiner Kneipe tun. Aber da sind mir durch mein Aussehen, mein
Geschlecht, meine physische und meine soziale Identität Grenzen gesetzt. Das ist im Netz nicht der Fall. Im
Netz ist das alltägliche Konzept der Identität außer Kraft gesetzt.
Interessant ist dabei, daß es fließende Übergänge zwischen der normalen Netzwelt des
Wissenschaftleralltags und den erfundenen MUD-, MOO- und IRC-Identitäten gibt. So ermöglicht
beispielsweise der `whois`-Befehl im IRC, Beziehungen herzustellen zwischen den verschiedenen Decknamen
eines Nutzers, der sich u.U. gleichzeitig in mehreren Channels aufhält, seiner e-mail-Adresse und seiner
User- und Host-ID. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die meisten Netzfreaks mehrere email-Adressen
und User-bzw. Host-IDs benutzen. Auch die vermeintlich `realen` User- und Host-Identitäten können
also de facto virtuell sein, d.h. von der IRL-Identität und dem IRL-Aufenthaltsort des Nutzers abweichen.
Viele MUDs und MOOs basieren auf dem permanenten Spiel mit realen und virtuellen Identitäten. So sind
beispielsweise im MediaMOO des Massachusetts Institute of Technology (MIT) enge Verflechtungen und
häufige Übergänge zwischen den privaten, den wissenschaftlichen und den fiktionalen
Identitäten der Teilnehmer die Regel. Das MediaMOO ist ein textbasiertes Kommunikations- und
Forschungsenvironment für Medienwissenschaftler. Es wurde Ende 1992 von Amy Bruckman, einer
Doktorandin des MIT-MediaLab, gegründet und ist seit Anfang 1993 der Internet-Öffentlichkeit
zugänglich. Im Dezember 1994 hatte MediaMOO bereits 1100 aktive Mitglieder aus 29 Ländern.(5)
Im nächsten Jahr soll auf den Computern des MIT eine didaktisch konzipierte und pädagogisch
begleitete virtuelle Schullandschaft - das MOOSE Crossing - für 800-1000 Kinder im Alter von 10-12
Jahren eröffnet werden. Auch dieses Projekt wird von Amy Bruckmann geleitet. Auf den Titelseiten ihrer
Publikationen gibt die junge Internetforscherin neben ihrem IRL-Namen die e-mail-Adressen der fiktiven
Identitäten an, unter denen sie an verschiedenen Orten des Netzes bekannt ist und für ihre
Forschungen recherchiert und Interviews durchgeführt hat. Dadurch macht sie klar, wie eng die
unterschiedlichen Identitäten miteinander verflochten sind und wie sich gerade dieses Geflecht von
Identitäten für die wissenschaftliche Forschung nutzen läßt.
Aber nicht nur das traditionelle Konzept der personalen Identität, sondern auch die diesem Konzept
zugrunde liegende alltägliche Raumerfahrung wird durch die virtuelle Netzwelt transformiert. Als Cursor-
Identität bewege ich mich ganz unabhängig von der realen Welt und ihren geographischen Distanzen.
Ich bewege mich im digitalen Raum des Netzwerkes und beame mich von Kontinent zu Kontinent, ohne daß
die realen Distanzen irgendeine Rolle spielen. Insofern befinde ich mich natürlich auch dann, wenn ich mit
meinter guten, alten Normalidentität im Netz unterwegs bin, im Modus der Virtualität. Im Cyberspace
ist alles jetzt und hier anwesend. Das führt zu einer Veränderung unserer Zeiterfahrung. Auf dem IRC,
in den MUDs und MOOs oder im World Wide Web gibt es keine Nacht. Es ist immer Tag. Es sind immer
irgendwo auf der Welt Menschen wach, welche die zahllosen Treffpunkte des Netzes bevölkern. Der
Bildschirm kennt nur das Leuchten. Die virtuelle Welt ist unabhängig vom Sonnenlicht. Es gibt keine
einheitliche, irgendwie natürliche Zeit, welche die Kommunikationspartner wie selbstverständlich
voraussetzen könnten. Sie müssen sich vielmehr umständlich über ihre jeweilige lokale
Eigenzeit verständigen und die Differenzen abgleichen, wenn sie sich im Netz verabreden wollen. Die
Zeithorizonte sind in ständiger Bewegung. In diesem Moment spreche ich mit jemandem, bei dem es Nacht
ist. Zwei Minuten später habe ich es mit jemandem zu tun, der gerade vom Mittagessen kommt,
während ich selbst gleich zum Abendessen gehe.
Teil 2: Interaktivität im World Wide Web
Während ich bisher auf Veränderungen eingegangen bin, die nicht nur für das World Wide
Web, sondern auch für die textorientierten Internet-Dienste wie Email, Newsgroups, IRC, MUDs und MOOs
relevant sind, konzentriere ich mich nun auf die Spezifika des World Wide Web. Dazu ist es hilfreich, die
Medienstruktur des WWW einmal mit der Struktur derjenigen Medien zu vergleichen, die unseren Alltag bisher
wesentlich geprägt haben: mit dem Fernsehen und dem Telefon. Während das Fernsehen von seiner
Kommunikationsstruktur her als Einbahnstraße zu beschreiben ist - die Informationen bewegen sich
unidirektional ausschließlich von der programmächtigen Institution der Sendeanstalt zum passiven
Fernsehkonsumenten - , ist das Internet ein interaktives Medium. Jeder
Empfänger ist selbst ein potentieller Sender. Das gilt selbstverständlich auch für textorientierte
Netzdienste. Aber durch die graphische Oberfläche des World Wide Web wird die einfache
Interaktivität der textorientierten Dienste auf entscheidende Weise weiterentwickelt.
Jeder, der einen PC, einen Internet-Anschluß, die entsprechende Software und zusätzlich vielleicht
sogar noch Zugang zu einer Video-Kamera, einem Fotoapparat und einem Scanner hat, kann im World Wide Web
seine eigenen multimedialen Seiten designen, sein eigenes Programmangebot gestalten. Dabei besteht
selbstverständlich die Möglichkeit, für die unterschiedlichen realen und virtuellen Rollen, die
man innerhalb und außerhalb des Netzes spielt, jeweils eigene Web-Pages zu entwerfen. Diese lassen sich
dann durch Hyperlinks miteinander verflechten. Ebenso können Vernetzungen mit den Webseiten
befreundeter Netznutzer und mit jedem anderen Datenangebot, das sich auf dem Netz findet, hergestellt werden.
Der ehemals passive Fernseh-Empfänger wird im Web zu einem aktiven Manager und Komponisten seines
individuellen Programms. Mehr noch: Er wird zu einem interaktiven Mitspieler innerhalb des sich in
ständigem Fluß befindenden Netzgeschehens.
Der flexible Übergang von der Empfänger- in die Senderposition und die individuelle
Programmgestaltung sind uns aus der Struktur alltäglicher Gesprächssituationen bekannt. Das
Telefon, das diese Situationen über räumliche Distanzen hinweg reproduziert, ist in diesem Sinn
bereits eine interaktive Technologie. Beim Telefonieren können wir unsere Kommunikationspartner selbst
bestimmen und insofern Einfluß auf das 'Programm' in einem übertragenen Sinn nehmen. Aber mit
Ausnahme von Telefonkonferenzen ist die Kommunikationsstruktur des Telefons im Verhältnis zur
multidirektionalen Kommunikationsstruktur des Internet begrenzt. Außerdem erlaubt das an die menschliche
Stimme gebundene, auditive Medium Telefon - sieht man einmal vom Anrufbeantworter ab - keine von der
eigenen Präsenz unabhängige Selbstdarstellung. Genau dies wird durch das World Wide Web
ermöglicht.
Meine Web-Page ist eine Doublette meiner selbst, in manchen Fällen sogar die kreative Erfindung eines
neuen Selbst, einer neuen Identität, die ich bisher vor mir und anderen verborgen hatte und die nun in meiner
Abwesenheit mit anderen Menschen medial interagiert. Die medienstrukturelle Besonderheit des World Wide Web
liegt in dieser gegenüber Telefon und Fernsehen neuartigen Dimension einer gleichsam appräsenten,
von meiner realen Anwesenheit unabhängigen Interaktivität. Unsere Identität wird dadurch
bereits im Ansatz pluralisiert. Die Bilder, die wir uns von uns selbst und die sich andere von uns machen, gewinnen
ein von unserer Präsenz unabhängiges Eigenleben. Diese appräsenten Identitäten stehen
in engen Verflechtungsverhältnissen zu anderen realen und virtuellen Netz-Identitäten, unter denen
wir in unterschiedlichen Netzkontexten agieren. Unsere Netzpersönlichkeit setzt sich aus einem Geflecht
verschiedener Rollen, Identitäten und Funktionen zusammen, die wir streng voneinander isolieren oder aber
bewußt miteinander vernetzen können.
Die Beschreibung macht deutlich, daß das World Wide Web nicht nur ein bunter Commerce- und
Entertainment-Highway ist, sondern das Potential für die Entwicklung eines kreativen Communication- und
Education-Highway in sich birgt.(6) Das wird noch klarer, wenn man sich die Besonderheiten der für das
World Wide Web charakteristischen Dokumentenstruktur der Hypertextualität vergegenwärtigt. Das
geschieht im nun folgenden:
Teil 3: Hypertextualität im World Wide Web
Die den Kernbereich des WWW ausmachenden Hypertextdokumente (7) können mittels der einfachen
Programmiersprache HTML (HyperText Markup Language) so organisiert werden, daß der Text nicht als
fixe lineare Sequenz, sondern als ein aktiv zu gestaltendes Geflecht von Textbausteinen erscheint. Die
Textbausteine sind durch sogenannte "Links", die man über Mausklicks aktivieren kann,
miteinander verbunden. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Schreiben und Lesen von Texten.
Jeder Leser hinterläßt bei der Lektüre seine eigene Spur im Text. Oder besser: jeder Leser
komponiert den Gegenstand seiner Lektüre durch aktive Selektion der vorgegebenen Links. Die individuelle
Rezeptionsperspektive bestimmt die Abfolge der Textbausteine. Lesen ist nicht länger ein passiver Vorgang
der Rezeption, sondern wird zu einem Prozeß der kreativen Interaktion zwischen Leser, Autor und Text.
Auch das Schreiben von Texten verändert sich. Unter Hypertextbedingungen wird Schreiben zu einem
Geschehen der produktiven Vernetzung assoziativer Komplexe. Die vielfältigen Beziehungen, die zwischen
den verschiedenen Gedankengängen bestehen, die der Schreibende entwickelt, lassen sich durch Hyperlinks
festhalten und repräsentieren. Während der lineare Buch- oder Aufsatztext die komplexen
Verflechtungsverhältnisse, die zwischen unseren Gedanken bestehen, künstlich linearisiert und in eine
hierarchische Ordnung zwingt, erlaubt der Hypertext eine direkte Darstellung derjenigen Strukturen und
Zusammenhänge, die im Buch nachträglich und unzulänglich durch Fußnotenverweise
und Indices rekonstruiert werden.
Zugleich ist der Schreibende im Medium des Hypertextes nicht mehr in der Position des Allwissenden.
Während der traditionelle Autor allein für das geschlossene System des von ihm geschriebenen
Buches oder Aufsatzes verantwortlich zeichnet, vollzieht sich das hypertextuelle Schreiben und Denken in
unmittelbarer Interaktion mit dem Schreiben und Denken anderer Menschen. Da prinzipiell jede im Internet
zugängliche Datei als Textbaustein in das eigene Schreiben integriert werden kann, sind die
Interaktionsmöglichkeiten unendlich. Das Verweisungssystem ist grenzenlos. Man könnte sagen,
daß es sich beim Internet insgesamt um einen einzigen großen Hypertext handelt, der sich in
permanenter Veränderung, in ständiger Bewegung befindet.
Durch das hypertextuelle World Wide Web wird es möglich, die Dynamik der Wissenstransformation, die
für die moderne Wissenschaft charakteristisch ist, im elektronischen Medium unmittelbar zu spiegeln. Das
Medium des Buches und die damit verbundenen Verlags-Institutionen des Buchmarktes können der sich
exponentiell steigernden Dynamik des Wissens schon lange nicht mehr gerecht werden. Der zeitliche Abstand
zwischen der Niederschrift eines Textes und seiner Publikation durch den Verlag beträgt mehrere Monate
oder sogar Jahre. Diese Zeitkluft wird durch das unmittelbare Publizieren im Netz überwunden. Es ist sogar
möglich, im Netz selbst an einem Buch oder einem Aufsatz zu arbeiten. Dann vollzieht sich bereits die
Entstehung des Textes im Modus der Öffentlichkeit, d.h. in enger Kooperation mit anderen Netznutzern, die
sich mit ihren Kommentaren in das `work in progress` einschalten.
Schon das letzte Beispiel verdeutlicht, daß das Internet keinesfalls das Ende des Buches bedeutet. Das World
Wide Web verpflichtet nicht zur Hypertextualität. Die linearen Buchstrukturen sind im World Wide Web
ohne weiteres abbildbar. Mehr noch: die meisten Texte, die sich gegenwärtig im Netz befinden, sind keine
Hypertexte, sondern ganz normale Aufsätze und Bücher, die in HTML-Code konvertiert und ein
wenig für das Netz überarbeitet wurden. Derzeit dient das World Wide Web in erster Linie dazu,
Bücher und Aufsätze besser und schneller zugänglich zu machen. So ist es heute für
einen mit dem Internet vertrauten Philosophen kein Problem mehr, sich die Werke von Immanuel Kant oder John
Locke via World Wide Web auf den Bildschirm zu holen oder die Vorträge, die auf einer für ihn
wichtigen Konferenz gehalten und im Netz publiziert wurden, einzusehen. Das gleiche gilt für
bibliographische Recherchen in den wissenschaftlichen Fachbibliotheken der Welt.
Demgegenüber stellt das eigentliche, dem neuen Medium angemessene Schreiben und Denken im
Hypertext-Stil noch eine anspruchsvolle Zukunftsaufgabe dar. Schulen und Universitäten, Lehrer,
Wissenschaftler und Autoren müssen darauf erst noch vorbereitet werden. Es steht zu vermuten, daß
die klassischen Texte der Tradition zu diesem Zweck langfristig auch als echte Hypertexte, d.h. als durch Links
verbundene Gedankennetze, zugänglich gemacht werden. (8) Das wäre nicht so revolutionär
und außergewöhnlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Bereits die antiken Texte, die wir heute
wie selbstverständlich in Buchform lesen, haben einen ähnlichen Medienübergang hinter sich.
Sie wurden ursprünglich auf Papyrus-Rollen ohne Interpunktion, Seitenzählung und
Inhaltsverzeichnis geschrieben und erst nachträglich in Buchform gebracht.(9)
Nicht nur schriftliche Texte, sondern auch Bilder, d.h. eingescannte Fotographien oder Videos, spielen im WWW
eine wichtige Rolle. Aber auch sie fungieren dort zumeist noch nach traditionellem Muster, nämlich als eine
Art Quasi-Referenz. Sie unterbrechen den Fluß der Verweisungen und stellen künstliche Endpunkte
von Menüs, d.h. Sackgassen im Hyperraum dar. Es gibt jedoch auch geschicktere, dem Hypertext-Medium
angemessenere Formen der Bildpräsentation auf dem Netz. Dabei werden verschiedene Bereiche des Bildes
mit "source anchors" versehen, die auf jeweils unterschiedliche "destination anchors"
verweisen. Das Bild funktioniert dann selbst wie ein Hypertext. Aktiviere ich einen Link innerhalb des Bildes,
werde ich auf andere Bilder oder Texte verwiesen. Das Bild erscheint nicht länger als Referenz und
Schlußpunkt eines Menüs, sondern wird selbst zu einem Zeichen, das auf andere Zeichen verweist.
Ebenso wie die schriftlichen Hyptertexte dient das hypertextuelle Bild als semiotische Schnittstelle im unendlichen
Verweisungsgefüge des Cyberspace.
Berücksichtigt man die interne Datenstruktur digitaler Bilder, dann wird deutlich, daß aus Pixeln
zusammengesetzte Bilder in sich selbst Schriftcharakter haben. Mit den entsprechenden Editor-Programmen lassen
sich die Elemente, aus denen das digitale Bild besteht, wie die Buchstaben einer Schrift austauschen, verschieben
und verändern. Bilder werden so zu flexibel redigierbaren Skripturen. Im digitalen Modus verliert das Bild
seinen ausgezeichneten Status als Abbildung von Wirklichkeit. Es erweist sich als eine ästhetische
Konstruktion, als ein technologisches Kunstwerk, dessen Semiotik sich intern aus der Relation der Pixel und extern
durch die Verweisung auf andere Dokumente ergibt.
Die pragmatische Beschränkung, thematische Rückbindung und zielgerichtete Strukturierung der
schriftlichen und bildlichen Elemente des World Wide Web zu einem Verweisungsgefüge, das Antworten
gibt, auf die Fragen, die man sich vor Beginn des Web-Browsing gestellt hat, ist als aktive Leistung vom Nutzer zu
erbringen. Durch den schnell zu erlernenden Einsatz von Net-Search-Robots, d.h. automatischen Index-
Programmen wie InfoSeek, Lycos, WebCrawler oder World Wide Web Worm, sowie durch die Verwendung von
Archivierungs- und Strukturierungsswerkzeugen wie Bookmarks und Hotlists wird aus dem Netz-Newbie, dem
zunächst das `lost in cyberspace` droht, im Laufe der Zeit ein souveräner Netz-Navigator. Der Netz-
Navigator oder Cybernaut hat gelernt, sich in der rhizomatischen Flut von Hypertextlinks zurechtzufinden. Er
weiß, daß es keinen Ursprungstext, kein `eigentliches` Dokument gibt, auf das alle anderen Dokumente
zu beziehen wären. Er hat durchschaut, daß es auf dem Netz in erster Linie darum geht, aus den
vielfältigen und verstreuten Textbausteinen kleine Maschinen, kreative Textgestalten, sinnhafte Komplexe
zu formen, die vorher so nicht existiert haben und durch ihn selbst erst hervorgebracht werden müssen. Der
netzgeschulte Cybernaut ist dabei zugleich Produzent neuer Hypertexte. Von jeder Reise in den Cyberspace bringt
er eine Vielzahl neuer Links, Bookmarks und Hotlist-Eintragungen mit, um diese in seine eigenen Web-Pages zu
integrieren.
Soweit meine kleine Skizze der neuartigen kulturellen Praktiken, die durch die interaktive Hypertextualität
des World Wide Web ermöglicht werden. Ich breche meine Analysen an dieser Stelle ab, um mit Ihnen nun
in die kritische Diskussion über die Bewertung dieser neuen technologischen Möglichkeiten
einzutreten. Ich habe mich bewußt auf eine deskriptive Analyse beschränkt und die normativen
Aspekte außen vorgelassen. Es wäre eine eigene Aufgabe, alle die Vorurteile, die pauschalen
Verwerfungen und die euphorischen Affirmationen, die das Internet speziell in Deutschland hervorgerufen hat, zu
untersuchen.
Natürlich ist auch meine Beschreibung nicht durchweg neutral. Ich denke, es ist
deutlich geworden, daß ich das Internet für eine Bereicherung unserer alltäglichen
Kommunikationsgewohnheiten halte. Auch seinen durchaus ambivalenten Auswirkungen auf unser Selbst- und
Weltverständnis, auf Raum- Zeit- und Identitätskonzepte kann ich einiges Positives abgewinnen. Im
Blick auf die wissenschaftliche Arbeit, den Umgang mit Texten, die Praxis des Schreibens und Forschens traue ich
dem Internet revolutionäre Neuerungen zu, die in ihrer Transformationsdynamik durchaus an die Erfindung
des Buchdrucks heranreichen. Alles hängt m.E. davon ab, was wir aus diesem neuen Medium machen. Es
liegt an uns, ob wir die Chancen aktiv nutzen, die uns die neue Technologie bietet, oder ob wir den ebenfalls in der
neuen Technologie angelegten Risiken, Gefahren und Versuchungen erliegen. Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
Anmerkungen:
(1) Der Begriff `cyberspace` wurde 1984 von William Gibson in seinem Roman Neuromancer
geprägt. Ebenso wie der Begriff `virtual reality` ist er im wissenschaftlichen Bereich zunächst zur
Bezeichnung audiovisueller und taktiler Simulationstechnologien verwendet worden, die den Benutzer mithilfe von
Datenanzügen und Datenhelmen in kuenstliche dreidimensionale
Computerwelten versetzen. Erst in den letzten Jahren
ist die Bedeutung beider Begriffe so erweitert worden, daß darunter auch die digitalen Räume, die
durch das Internet geschaffen werden, fallen. In diesem auf das Internet bezogenen Sinn werden beide Begriffe von
mir verwendet. Zurück zum Text
(2) Eine gut verständliche Beschreibung und Analyse des IRC findet sich im 6. Kapitel von Howard
Rheingolds populärem Internet-Buch Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des
Computers, Bonn 1994, S. 219-242. Zum Thema vgl. auch die ausführliche Untersuchung von
Elisabeth Reid Electropolis: Communication and Community on Internet Relay Chat, Honours
Thesis, Department of English, University of Melbourne, 1991 (Online-Version:
http://www.ee.mu.oz.au/papers/emr/index.html). Eine Kurzfassung der Studie von Reid findet sich in
Intertek, Bd. 3.3, Winter 1992, S. 7-15. Zurück zum Text
(3) Vgl. hierzu Rheingold, a.a.O., Kapitel 5. Eine ausführliche Analyse der Kommunikationsstrukturen von
MUDs hat Elisabeth Reid vorgelegt: Cultural Formations in Text-Based Virtual Communities,
Master Thesis, Department of English, University of Melbourne, 1994 (online-Version:
http://www.ee.mu.oz.au/papers/emr/index.html). Zurück zum Text
4) Vgl. hierzu Rheingold, a.a.O., Kapitel 5, insbes. S. 191ff und 215ff. sowie die einschlägigen
Untersuchungen von Amy Bruckman (s.u. Anm. 5). Zurück zum Text
(5) Vgl. dazu Amy Bruckman und Michael Resnik: Virtual Professional Community. Results from the
MediaMOO Projekt, via ftp: media.mit.edu (pub/asb/papers/3cyberconf). Zum Spiel mit Identitäten
im MediaMOO siehe auch: Amy Bruckman, Identity Workshop. Emergent Social and Psychological
Phenomena in Text-Based Virtual Reality, via ftp: media.mit.edu (pub/asb/papers/identity-workshop). Zurück zum Text
(6) Die Unterscheidung der unterschiedlichen, eng miteinander verwobenen Datenhighways, aus denen sich das
Internet zusammensetzt, habe ich in meinem Aufsatz Interaktive Netze in Schule und Universität -
Philosophische und didaktische Aspekte weiter ausgeführt. Der Text ist im WWW unter der
folgenden Adresse aufzufinden: http://www.uni-jena.de/ms/schulnet.html. Zurück zum Text
(7) Die Idee der Hypertextualität geht zurück auf Vannevar Bush. Der frühe Pionier des
assoziativen "information retrieval" hat bereits in seinem im Juli 1945 im Atlantic
Monthly (Heft 176, S. 101-108) erschienenen Artikel As We May Think eine neue, technisch
avancierte Architektur des wissenschaftlichen Denkens und Forschens gefordert. Das von ihm entworfene
"Memex"-System war als eine mechanische Zukunfts-Apparatur konzipiert, die es durch
"associative indexing" ermöglichen sollte, daß "any item may be caused at will to
select immediately and automatically another" (Bush, a.a.O., S. 34). Vgl. hierzu auch George P. Landow,
Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore/London
1992, S. 14-18. Zurück zum Text
(8) Vgl. hierzu Hypermedia and Literary Studies, hrsg. von Paul Delany und George P. Landow, Cambridge
(Mass.)/London 1991, Part III: Applications, S. 185ff. Zurück; zum Text
(9) Vgl. hierzu Jay David Bolter, Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing, Hillsdale
(New Jersey)/London 1991. Zurück zum Text
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